Politischer Aschermittwoch der SPD:"Schulle" euphorisiert das Bierzelt

Beim politischen Aschermittwoch in Niederbayern gelingt es dem SPD-Kanzlerkandidaten auf verblüffende Weise, die Zuhörer mitzureißen. Was ist nur mit der SPD und ihren Anhängern passiert?

Von Oliver Das Gupta, Vilshofen

Es ist 11.48 Uhr, als Martin Schulz auf die Bühne steigt. Etwa 5000 Menschen sehen ihm dabei zu, die meisten schreien, klatschen und johlen, sie rufen "Martin, Martin". Um 11.50 Uhr spricht Martin Schulz davon, dass die Sozialdemokratie "stolz" sei. Der Jubel wird stärker. Eine Minute später geißelt er diejenigen, die Europa kaputt machen.

Er spricht davon, dass er dank Europa keinen Krieg erleben musste, dass das so bleiben soll. Um 11.56 beginnt er, den Nationalismus zu geißeln. Erdoğan und Orban, alle werden abgewatscht. Schulz vergleicht Trumps Anfeindungen gegen Journalisten mit den "Lügenpresse"-Rufen von Pegida.

Schulz preist Europa und sich selbst: "Wer ins deutsche Kanzleramt will, muss Europakompetenz haben." So verläuft die erste Viertelstunde der Rede von Schulz beim politischen Aschermittwoch der SPD in Vilshofen. Geschrien und geklatscht wird fast im Minutentakt. Bei einer SPD-Veranstaltung. In Niederbayern. Für einen Rheinländer - aus hiesiger Sicht also für einen "Preiß".

Thematisch klappert Schulz wenig Neues ab: Rente, Steuerflucht, soziale Gerechtigkeit in allen Facetten, dazu einige Seitenhiebe auf die zerstrittenen Unionsparteien. "Die sind nicht mehr ganz beisammen", ruft er in das gröhlende Bierzelt hinein. Das ist nicht besonders originell, aber das scheint gerade völlig wurscht zu sein. Dabei schlägt Schulz verhältnismäßig wenig auf die Union ein, nur Seehofer und Söder bekommen etwas ab, die Kanzlerin bleibt bei allen Rednern nahezu unerwähnt.

"Schulz-Zug" und "Gottkanzler"

Zwei Stunden vor der Schulz-Rede im noch halbleeren Bierzelt. Hans-Quirin Baumgartner hat auf einer Bierbank am Rand Platz genommen. Er tritt so auf, dass er als Bayer deutlich zu erkennen ist: Lederhosen trägt er, dazu Janker und Wadlschoner, sein Rauschebart ist prächtig, ein halbvolles Weißbierglas steht vor ihm.

Als Baumgartner das erste Mal bei einem politischen Aschermittwoch der SPD erschien, wollte man ihn wegschicken. "Die haben geglaubt, ich hätt' mich verlaufen", sagt der 75-Jährige. Dabei ist Baumgartner damals wie heute genau am richtigen Ort: Bei der Partei, der er seit einem halben Jahrhundert angehört.

Politischer Aschermittwoch der SPD: Seit 50 Jahren in der SPD: Hans-Quirin Baumgartner beim politischen Aschermittwoch in Vilshofen.

Seit 50 Jahren in der SPD: Hans-Quirin Baumgartner beim politischen Aschermittwoch in Vilshofen.

(Foto: Oliver Das Gupta)

Der frühere BMW-Angestellte deutet auf sein Smartphone. Ein Foto, das ihn neben dem Mann zeigt, auf den er große Stücke hält: Martin Schulz, der designierte SPD-Chef und Kanzlerkandidat. Seit Sigmar Gabriel Ende Januar seinen Machtverzicht öffentlich gemacht hat, schwappt eine Schulz-Welle durch Teile der Republik: Die Umfragewerte sind auf mehr als 30 Prozent für die SPD geschnellt, plötzlich ist man gleichauf mit der Union, plötzlich scheint es eine reale Chance auf das Kanzleramt nach der Bundestagswahl im September zu geben.

Vom "Schulz-Zug", vom "Gottkanzler" sprechen, schreiben und twittern die Genossen und ihre Kampagneros. Dass da tatsächlich etwas ins Rutschen gekommen ist in den vergangenen Wochen, das belegt Vilshofen an diesem Tag.

"Schmidt, Schröder, Schulz - das hört sich doch wirklich logisch an"

Österreichs sozialdemokratischer Bundeskanzler Christian Kern spricht vor seinem deutschen Parteifreund, er tritt quasi als "Vorband von Martin Schulz" auf, wie Kern scherzt. Es ist die erste Rede zu einem politischen Aschermittwoch für den früheren Chef der Österreichischen Bundesbahnen, der erst 2016 zum Regierungschef in Wien wurde. Kern sagt sinngemäß, er könne als amtierender Kanzler nicht so draufhauen wie ein Kandidat in der Opposition. Doch dann folgt eine Ansprache, in der er munter zwischen Attacke und Ansage wechselt. Bemerkenswert ist dabei weniger, wie deutlich Kern den Führungsanspruch für die Sozialdemokratie in Europa einfordert.

Österreichs Kanzler attackiert auch US-Präsident Donald Trump frontal. "Die Reality Show wird zum politischen Alltag", ruft er, und: "Der Bock wurde zum Gärtner gemacht." Dann spannt er den Bogen von Washington nach Paris. Die dortige Rechtsextremistin Marine Le Pen würde bei Trump abkupfern, sie sei eine "Madame Trump mit Baguette unterm Arm".

Keine Frage: Der geschleckt daherkommende Ex-Spitzenmanager Kern kann auch Bierzelt. Als er das Jackett auszieht, kokettiert der drahtige Kanzler damit, er werde nicht noch mehr ablegen - die Damen müssten sich keine Sorgen machen. Besonders gut kommt er in Vilshofen damit an, dass er die Steuerflucht von Großkonzernen anprangert. Jede "Würschtelbude in Wien" würde mehr Steuern zahlen als Apple, sagt Kern. Am Ende prophezeit er einen SPD-Wahlsieg und die Kanzlerschaft: "Schmidt, Schröder, Schulz - das hört sich doch wirklich logisch an, oder?"

Der Moment, als es still wird im Zelt

Schulz selbst widmet die letzten Minuten seiner Ansprache seinem Machtanspruch - und seinem persönlichen Narrativ. Er erzählt von seiner Alkoholkrankheit in jungen Jahren, ohne dass das Wort "Alkohol" fällt. "Ich habe die Orientierung verloren", sagt Schulz und jetzt ist es ganz still im Zelt. Freunde und Verwandte hätten ihn wieder aufgerichtet. "Ich habe diese zweite Chance bekommen und genutzt", sagt Schulz und schlägt dann die Brücke zum großen Thema Solidarität.

Wo es um Korrekturen an der Agenda-Politik geht, bleibt Schulz im Vagen - was später auch manche Zuhörer monieren. Aber er fragt: Hat die SPD alles getan, um ihr großes Versprechen einzulösen, das da lautet: Das Leben aller Menschen besser zu machen?

Darin sieht Schulz den Schlüssel, der Blick zurück ist für ihn der Blick nach vorne: "Wenn wir uns fragen: Wie kann ich das Leben der Menschen besser machen - dann gewinnen wir die Wahlen." Das klingt simpel - es ist zu simpel, um eine Wahl zu gewinnen. Aber das ist an diesem Tag an diesem Ort den meisten Leuten egal. Sie feiern Martin Schulz, der erwähnt, dass ihn seine Freunde früher "Schulle" genannt haben. Sie buhen und pfeifen, als er die AfD "Schande für Deutschland" nennt.

Fast jeder Spruch, ob ausgefuchst oder platt, zündet beim Publikum, vielen Leuten ist geradezu Euphorie ins Gesicht geschrieben. Was ist nur mit der SPD und ihren Anhängern passiert? An diesem Tag rockt "Schulle" das Bierzelt.

"Da samma zu ehrlich"

Doch bei aller Begeisterung, trotz aller neuen SPD-Mitglieder (im Bierzelt geben 15 Leute ihre Anträge auf Parteimitgliedschaft ab): Es muss sich noch zeigen, ob der Schulz-Effekt bis zur Wahl vorhält - und sich auf genügend Menschen auswirkt, die der SPD in den vergangenen Jahren die Stimme verweigert haben. Da ist etwa die parteilose Studentin aus Leipzig, die bei Schulz noch konkrete Aussagen vermisst. Da ist die SPD-Kommunalpolitikerin, die vom Gefühl ihrer Genossen erzählt, politisch verloren zu sein. Gerade ist dieses Gefühl verflogen - doch wird es dabei bleiben?

Und da ist Hans-Quirin Baumgartner, das bayerische Original mit dem roten Parteibuch. Die SPD sei von Haus aus eben verwundbarer, auch im Wahlkampf, sagt Baumgartner: "Da samma zu ehrlich."

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