Neue Wikileaks-Dokumente:Pofalla macht sich Sorgen

Die neuen Enthüllungen in der Späh-Affäre sorgen für helle Aufregung im NSA-Untersuchungsausschuss. Oskar Lafontaine kann sich nur wundern, Sigmar Gabriel flüchtet sich in Ironie - und Ronald Pofalla hat Angst um deutsche Soldaten.

Von Thorsten Denkler, Berlin

Alle abgehört. Nicht nur die Kanzlerin. Praktisch die ganze Bundesregierung. Über Jahre hinweg. Der amerikanische Auslandsnachrichtendienst NSA scheint ganze Arbeit geleistet zu haben, wie die jüngsten Wikileaks-Enthüllungen nahelegen.

In Berlin sorgen die Veröffentlichungen für helle Aufregung. Mit direkter Auswirkung auf die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses im Bundestag. Die übliche nicht öffentliche Beratungssitzung am Donnerstag dauert gut zwei Stunden länger als erwartet. Ergebnis: Noch für den Abend wird der Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, in den Ausschuss zitiert.

Vorher aber steht der frühere Kanzleramtsminister Ronald Pofalla (CDU) als Zeuge auf dem Programm. Er ist giftig aufgelegt, als er am Abend auf dem Zeugenstuhl Platz nimmt.

Die neuen Vorwürfe interessieren ihn gar nicht. Er hat etwas anderes vor. Er will anklagen. Die Medien. Das Parlamentarische Kontrollgremium des Bundestages, das längst nicht mehr geheim tage. Alle, die die Arbeit der deutschen Geheimdienste in Zweifel stellen.

Pofalla macht sich Sorgen

Eine halbe Stunde lang liest er seine Erklärung vom Blatt ab. 15 Seiten. Vielleicht ein paar mehr. Dann noch gut 15 Minuten freie Rede. Pofalla macht sich Sorgen. Das ist seine Botschaft. "Ich mach mir große Sorgen um die Sicherheit." Bedeutungs-Pause. "Ich weiß, wovon ich rede."

Die ganzen Veröffentlichungen in den Medien. Diese vielen, vielen Dokumente, all das. Damit könnten "professionelle Analytiker längst unsere Sicherheitslücken analysieren". Das bringe deutsche Soldaten in Gefahr. In Afghanistan und sonst wo. Daran solle jeder denken, der hier mehr Transparenz wolle.

Er beobachte wegen dieser Veröffentlichungen einen "sukzessiven Rückzug der befreundeten Dienste". Jener Dienste, mit deren Hilfe in Deutschland Anschläge verhindert worden seien. Pofalla verlangt schlicht Dankbarkeit. Auch wenn es in den Diensten "hin wieder etwas gab", was anders hätte gemacht werden können.

Er hatte im Sommer 2013 Aufsehen erregt, als er Teile der NSA-Affäre für "beendet" erklärte. Kurz danach wurden Hinweise öffentlich, dass Merkels Handy abgehört wurde. Immer wieder kündigte Pofalla zudem ein "No-Spy-Abkommen" mit den USA an. Das nie zustande kam - auch weil die US-Seite es offenbar nie wollte.

Abteilungsleiter mit vager Erinnerung

Als erster Zeuge tritt mittags Günther Heiß auf. Chef der Abteilung 6 im Kanzleramt. Dort ist die Dienst- und Fachaufsicht über den Bundesnachrichtendienst gebündelt.

Die neuen Entwicklungen bringen Heiß in Erklärungsnot. Christian Flisek, der Obmann der SPD im Ausschuss, hakt nach, ob Heiß in seiner Dienstzeit vom Jahr 2009 an je Hinweise auf politische Spionage etwa der NSA zu Gesicht bekommen habe. Heiß weicht immer wieder aus. Flisek stellt ihn ein letztes Mal. Heiß räuspert sich, schluckt und sagt dann: "Nein, daran kann mich nicht erinnern."

"Katzbuckelei vor der US-Administration beenden"

Wie er sich überhaupt an wenig erinnern kann. 2010 landet eine Mappe auf seinem Tisch, in der erstmals Begriffe wie EADS und Eurocopter auftauchen - Suchbegriffe, die die NSA offenbar regelwidrig auf Analyse-Rechnern des BND einsetzte. Und womit ziemlich eindeutig gegen deutsche Interessen verstoßen wird. Heiß weiß das nur noch aus der Aktenlage. Ob er die Akte selbst gesehen hat, was er dann gemacht hat - er weiß es nicht. Zur Aufklärung scheint Heiß an diesem Nachmittag nicht viel mehr beitragen zu können - oder zu wollen.

Vielleicht ist das auch die falsche Ebene. Obleute aus dem Ausschuss sehen jetzt Kanzlerin Angela Merkel in der Pflicht. Christian Flisek sagt: "Es wird jetzt dringend nötig sein, dass sich die Bundeskanzlerin aus der Deckung begibt." Wenn Merkels Satz "Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht" ernst gemeint war - dann sei "spätestens jetzt der Zeitpunkt da, wo sie einen sehr intensiven politischen Dialog mit unseren amerikanischen Freunden suchen muss".

Die Linke Martina Renner fordert, die "Katzbuckelei vor der US-Administration zu beenden". Ihr Grünen-Kollege Konstantin von Notz hält es für "naiv", anzunehmen, dass die Regierung erst jetzt von den neuen Tatsachen erfahren habe. Ausschusschef Patrick Sensburg (CDU) sieht vor allem die Amerikaner in Erklärungsnot. Die Spähaktionen seien "unzweifelbar ein Straftatbestand", sagte er vor der Ausschusssitzung.

Lafontaine kann die Abhöraktionen nicht nachvollziehen

Zu den Abgehörten zählt auch der ehemalige Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine, damals in der SPD, danach bei der Linken. Er kann die Abhöraktionen nicht nachvollziehen. "Ich habe ihnen doch bei jeder Konferenz erzählt, dass ich die Finanzmärkte regulieren wollte und das Bankensystem für marode hielt", sagt er. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) kündigte an, die neuen Informationen prüfen zu wollen. "Wir sind misstrauischer geworden", sagt er.

Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel erklärte lediglich: "Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu." Im seinem Ministerium werde per Telefon nichts besprochen, "was man abhören müsste". Brisanter sei die Frage, ob die NSA auch die deutsche Wirtschaft ausgespäht habe.

Die Liste mit etwa 40 000 Suchbegriffen, die die NSA regelwidrig auf BND-Rechnern eingesetzt hat, soll von einem Vertrauensmann der Regierung geprüft werden. Die Ausschussmehrheit von Union und SPD nominierte dafür am Donnerstag den früheren Bundesverwaltungsrichter Kurt Graulich, 65. Er soll dem Ausschuss über seine Erkenntnisse berichten. Die Mitglieder der Opposition wollen die streng geheime Liste jedoch selbst einsehen. Linke und Grüne kündigten eine Verfassungsklage an.

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