Münchner Neueste Nachrichten vom 18. Juli 1914:Mit roten Hosen in Richtung Weltkrieg

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Deutsche Soldaten führen gefangene französische Infanteristen ab. Die nachcolorierte Aufnahme entstand kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 an der Westfront. (Foto: Oliver Das Gupta)

Heute vor 100 Jahren: Das SZ-Vorgängerblatt bezweifelt die Belastbarkeit des russisch-französischen Bündnisses, berichtet von auffälliger Militärkleidung und kritisiert die Abschaffung des "Moralunterrichts" an bayerischen Schulen.

Von Barbara Galaktionow

Sie sind hübsch anzusehen, die französischen Infanteristen im Jahr 1914: Blaugraue Röcke und - ein schöner Kontrast - leuchtend rote Hosen. Eigentlich will die Armee das auffällige Beinkleid ja schon seit Anfang des Jahrhunderts durch eine graublaues ersetzen, doch die Experimente mit verschiedenen Farben und Schnitten kommen erst langsam zu einem Ende. Und so können die Münchner Neuesten Nachrichten am 18. Juli 1914 berichten, dass die rote Hose in diesen Tagen ihren 85. Geburtstag feiert.

Die "eigenartige Begründung", warum das militärische Kleidungsstück im Jahr 1829 überhaupt eingeführt wurde, liefert das SZ-Vorgängerblatt gleich mit. Der damalige französische Kriegsminister habe sich begeistert darüber gezeigt, "daß dieses Beinkleid sich sehr glücklich von dem blauen Rock des Infanteristen abhebt und ihn in Reih und Glied größer erscheinen läßt". Überdies wurden noch ein paar wirtschaftliche Überlegungen angestellt. Die krapprote Farbe sei ein einheimisches Erzeugnis und daher billiger als das bisherige Blau - und so sei es mit der Umstellung auch möglich, den Sold der Soldaten zu erhöhen.

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Doch ohnehin liegt bei der französischen Armee im Juli 1914 einiges im Argen. Das hatte zumindest der Bericht eines Politikers in Paris gezeigt, der bei seinen Landsleuten viel Aufregung hervorrief. Für einen dürfte der Hinweis zu einem besonders ungünstigen Zeitpunkt gekommen sein: für Frankreichs Präsident Raymond Poincaré.

Der ist nämlich gerade unterwegs nach Russland zu Gesprächen mit den Verbündeten. Die Münchner Neuesten Nachrichten vermuten, dass die internen Debatten seine Verhandlungsposition schwächen. Poincaré werde "nicht besonders gut gerüstet nach Petersburg kommen und dort vielleicht manche neue Versprechung machen müssen" schreibt das Blatt in seiner Wochenschau am 18. Juli vor 100 Jahren.

Aggressive Staaten

Überhaupt steht der Zweibund Frankreichs und Russlands gerade unter keinem guten Stern - urteilt die Zeitung. So habe ihre gemeinsame Politik "mit dem in Belgrad plötzlich verstorbenen russischen Gesandten Hartwig ihren vielleicht begabtesten und willensstärksten Förderer verloren". Der Diplomat Nikolaus Hartwig war wenige Tage zuvor in Belgrad völlig unerwartet gestorben. Als Unterstützer panslavischer Ideen hatte er vor allem mit Kräften darauf hingewirkt, den Einfluss Österreich-Ungarns zurückzudrängen.

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Auch, was die Haltung Großbritanniens angeht, sieht das Münchner Blatt die französisch-russische Allianz durch die jüngsten Ereignisse geschwächt. Unter dem Eindruck des Attentats in Sarajewo - als Ausdruck des großserbischen Fanatismus' -, sei die englische Seite wohl weniger denn je geneigt, ein formales Bündnis mit "den beiden aggressivsten und unruhigsten Großstaaten Europas" einzugehen. Eine Einschätzung, die sich schon bald als zumindest unzureichend erweisen sollte.

Zwar zögert London damals tatsächlich, dem Drängen auf eine gemeinsame Dreierallianz nachzugeben. Doch als es zwei Wochen später zum Krieg kommt, stellt es sich eindeutig auf die Seite Frankreichs und Russlands. Und als aggressivster Staat Europas gilt dann ein anderer: das Deutsche Kaiserreich, das das neutrale Belgien skrupellos überrannte.

Doch Mitte Juli denkt man anscheinend auch in London noch nicht daran, dass sich an der Thronfolger-Ermordung und dem Lokalkonflikt zwischen Österreich und Serbien ein Weltkrieg entzünden wird. Die britische Westminster Gazette, so berichtet das SZ-Vorgängerblatt, äußert die Ansicht, Wien habe gute Gründe anzunehmen, dass in Belgrad separatistische Bestrebungen im von Österreich annektierten Bosnien-Herzegowina gefördert werde.

Serbien werde daher gut beraten sein, wenn es alles tue, um diese Bedenken zu zerstreuen - und zwar gleich und "ohne auf den Druck zu warten, der nach den Worten (des ungarischen Ministerpräsidenten) Tiszas kriegerische Verwicklungen bringen könnte". Die britische Zeitung spielt hier auf die angekündigte diplomatische Note der Donau-Monarchie an. Wie sich eine Woche später herausstellen sollte, entpuppt sich das Papier aus Wien als Ultimatum, in dem Belgrad unannehmbare Bedingungen gestellt werden.

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Zu diesem Zeitpunkt ist das aber noch nicht bekannt. Die britische Zeitung zeigt sich optimistisch: "Eine solche Lage zwischen einer großen und einer kleinen Macht sollte zu keiner Gefahr Anlaß bieten, wenn die Großmacht sich hochfahrender Maßregeln enthalte, die den Stolz und die Würde des kleineren Nachbarn verletzen." Sie konnte noch nicht wissen, wie sehr ihre Einschätzung durch den Inhalt des Ultimatums konterkariert werden sollte.

Ein großes Thema bildet an diesem Tag auch die Entwicklung in Mexiko. Letztlich laufen die Berichte darauf heraus, dass mit dem mehr oder weniger erzwungenen Rücktritt von Präsident Victoriano Huerta noch nichts gewonnen ist. Denn noch immer ist unklar, wer sich nun als sein Nachfolger durchsetzt und wie US-Präsident Woodrow Wilson sich weiter verhalten wird.

Kinder ohne Moralunterricht

Vor der eigenen Haustür sorgt ein Schul-Streit für Unfrieden. Bayerns Kultusminister Eugen von Knilling hat nämlich überraschend die Genehmigung für den sogenannten "Moralunterricht" zurückgenommen. Dabei handelt es sich offenbar um eine Art zeitgenössischen Ethikunterrichts, den konfessionslose Kinder statt des Religionsunterrichts an vielen bayerischen Orten besuchen. Von den Münchner Neuesten Nachrichten wird er dafür heftig kritisiert.

Der Moralunterricht für freikirchliche Kinder sei eine über Jahre hinweg geübte Praxis gewesen. Da sich am Unterricht nichts geändert habe, werde überdeutlich, dass sich nur eines gewandelt habe: "die Art wie das Kultusministerium jetzt diesen Unterricht zu beurteilen beliebt". Das Ganze werde durch ein neues Gutachten verbrämt, das allerdings bislang unter Verschluss gehalten werde.

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Nach Darstellung der Zeitung zeigt sich hier der jahrelange Druck der konfessionellen Kirchen und der katholischen Centrumspartei. Deren Stoßrichtung sei klar: Letztlich gehe es darum, freireligiöse Kinder zwangsweise in den Religionsunterricht zu schicken. Dem Staat wirft das Blatt vor ohne Grund und wegen einer Handvoll Kinder gegen das Gebot der Toleranz zu verstoßen.

Mehr Toleranz und gegenseitige Zugeständnisse, das ist es, was die SZ-Vorgängerzeitung sich auch im Hinblick auf die internationale Politik wünscht. Gerade in der Situation auf dem Balkan sieht es eine große Bedrohung für Europa. Hier agieren ja nicht nur Großserben gegen die Donau-Monarchie, sondern in Albanien kämpft der schwache, von der Staatengemeinschaft eingesetzte Fürst Wilhelm hilflos und ohne jede Unterstützung der großen Mächte gegen albanische und griechische Rebellen kämpft, wie die Zeitung auch an diesem Tag darlegt.

Und in der Wochenschau fällt ein geradezu prophetisch klingender Satz: "(...) man hat das drückende Empfinden, daß wir einer Katastrophe entgegensteuern, wenn diejenigen Mächte, die an den orientalischen Händeln am meisten beteiligt sind, nicht endlich einen ehrlichen Ausgleich ihrer widerstreitenden Interessen und der Gegensätze ihrer Klienten suchen und finden."

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Darunter jedoch - ebenfalls auf der Titelseite des Abendblatts - kommt ein abseitiger Aspekt der Unruhen in Albanien zur Sprache. "Heiteres aus den albanischen Kämpfen" ist dieser Abschnitt überschrieben. Die bunt zusammengewürfelten Truppen des Fürsten Wilhelm kämpfen demnach nicht nur mit Feldgeschütz und Maschinengewehren gegen die Rebellen, sondern an einem Ort auch mit "einem Dutzend alter venezianischer Kanonen aus dem Jahre - 1489". "Man wird sich vorstellen können, wie gefährlich diese Kanonen gewesen sein mögen - für die Bedienungsmannschaft", belustigt sich das Blatt.

Die Kämpfer in Albanien mögen ihr Kriegsgerät mit weniger heiteren Augen betrachtet haben. Ebenso wenig werden die französischen Infanteristen sich im Ersten Weltkrieg über die ästhetische Anmutung ihrer Kleidung gefreut haben. Denn mit den knallroten Hosen sind sie weithin gut sichtbar - und laufen wie lebende Zielscheiben vor den Maschinengewehrstellungen ihrer Gegner herum.

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