Münchner Neueste Nachrichten vom 17. Juli 1914:Frankreich fürchtet sich

Arc de Triomphe de l'Étoile, 1914

Der Arc de Triomphe in Paris im Jahr 1914: Im Juli des Jahres zweifeln die Franzosen, ob sie für einen möglichen Krieg gut gerüstet sind.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Vor 100 Jahren in der Zeitung: Ein Bericht über den Zustand der französischen Armee ruft in Paris heftige Reaktionen hervor, der ungarische Ministerpräsident deutet Kriegsbereitschaft an - und ein serbisches Revolverblatt erfindet eine völlig neue Version der Thronfolger-Ermordung.

Von Barbara Galaktionow

Am liebsten würden die Münchner Neuesten Nachrichten den Fall ja ignorieren. Von einem "schmutzigen Pamphlet" und "schamlosen Lügen" der "serbischen Hetzpresse" ist die Rede. Aber aus "Chronistenpflicht" sieht sich die Zeitung dann doch genötigt, in der Abendausgabe vom 17. Juli 1914 über eine Aufsehen erregende Titelgeschichte in einer serbischen Zeitung zu berichten.

Der Weg in den Ersten Weltkrieg

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Das zeitgenössische Revolverblatt Zvono hat nämlich eine ganz eigene Version der Ermordung von Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand, ja, man kann es nicht anders sagen, - erfunden. Und die ist wirklich atemberaubend.

Danach war der bosnisch-serbische Attentäter Gavrilo Princip ein geheimer Sohn der Ehefrau Stephanie des ersten Thronfolgers Rudolf. Rudolf, der einzige Sohn von Kaiser Franz Joseph I., soll sich nicht, wie offiziell verlautbart, selbst im Jahre 1889 auf Schloss Mayerling umgebracht haben, sondern im Auftrag von Franz Ferdinand getötet worden sein. Dass Franz Ferdinand für die Tat verantwortlich war, soll Stephanie von einem ominösen Freiherrn erfahren haben, den sie im Austausch für diese Information heiratete. Aus der entehrenden Ehe, die geheim gehalten wurde, ging ein ebenfalls vor der Öffentlichkeit verborgener Sohn hervor - Gavrilo Princip. Und der tötete nun wiederum im Auftrag seiner Mutter - der früheren Kronprinzessin Stephanie - aus Rache Franz Ferdinand. So behauptet es zumindest die serbische Zeitung.

Als "Beweis" präsentiert das Blatt seinen Lesern einen -natürlich völlig frei erfundenen - Brief Stephanies an Gavrilo Princip. "Als mein seliger Gemahl auf mysteriöse Weise im Schlosse Mayerling seinen Tod fand, habe ich fast den Verstand verloren", dichten die Zeitungsredakteure da und: "Die heimliche Ehe brachte dich auf die Welt, mein lieber süßer Sohn." Zuguterletzt legt das Blatt der Witwe folgende Worte an den Attentäter Princip in den Mund: "Die Welt wird meine Sünde verzeihen, wenn Du den Mord meines guten Gemahls mit der höchsten Strafe rächst."

Trotz aller Legenden, die sich wegen fehlender oder widersprüchlicher Zeugenaussagen und Dokumente tatsächlich um den Tod Rudolfs rankten, war den meisten Zeitgenossen offenbar sofort klar, dass an dieser Geschichte hinten und vorne nichts dran war. Nicht einmal die gemäßigte serbische Presse oder die serbische Regierung nahm diese Räuberpistole den Münchner Neuesten Nachrichten zufolge ernst. Umso mehr empört sich das Münchner Blatt darüber, dass die serbische Regierung nicht hart gegen diese Düpierung des österreichischen Kaiserhauses durchgreife, sondern behaupte, sie haben keinerlei Mittel, dagegen vorzugehen.

"Ultima ratio" eines Kriegs

Doch es gibt auch ernstzunehmende Meldungen zum Verhältnis von Österreich-Ungarn und Serbien an diesem Tag. Jetzt wird deutlich, dass es mit Sicherheit einen "diplomatischen Schritt" Wiens gegen Belgrad geben wird. Dies werde in den Worten des ungarischen Ministerpräsidenten István Graf Tisza deutlich, die Beziehungen zu Serbien seien "jedenfalls" zu klären, schreiben die Münchner Neuesten Nachrichten.

Wie bereits am Vorabend kurz gemeldet, hat Tisza Krieg vor ungarischen Abgeordneten als "ultima ratio" bezeichnet, die eintreten könne, "wenn sich die unbedingte Notwendigkeit hierzu ergeben sollte". Doch das Blatt will hierin keine konkrete Drohung sehen, zeigt sich weiterhin sicher, dass die "österreichisch-ungarische Regierung in friedfertigem Sinne und in ruhiger, freundlicher Form an die Belgrader Regierung herantreten wird". Das von Österreich wenige Tage später überbrachte Ultimatum an Serbien sollte allerdings eine andere Sprache sprechen.

Weltpostkongress muss Weltkrieg weichen

Erst im Rückblick sollte auch deutlich werden, dass Österreich-Ungarn sich mit seiner Reaktion auf die Thronfolger-Ermordung nicht so viel Zeit lässt, weil es erst das Ergebnis der polizeilichen Untersuchung abwarten will, wie es die Zeitung an diesem Tag behauptet. Die Monarchie spielt vielmehr auf Zeit, um eine schnelle gemeinsame französisch-russische Reaktion auf das Ultimatum zu verhindern. Der französische Präsident Raymond Poincaré soll seine Verbündeten in Sankt Petersburg schon wieder verlassen haben, wenn ihn die Nachricht davon erreicht. Am 17. Juli ist er allerdings gerade noch auf dem Weg nach Russland: Poincaré habe sich am Vorabend in Dünkirchen an Bord der La France eingeschifft, meldet die Zeitung.

"Wir sind weder verteidigt noch regiert!"

Mit im Gepäck auf seine Reise dürfte der Franzose womöglich noch ein paar düstere Gedanken an die Debatten in seiner Heimat genommen haben. Denn der Frankreich-Korrespondent der Münchner Zeitung berichtet mit Datum vom 14. Juli, dem Nationalfeiertag des Landes, nicht nur vom "jubelnden Tanzvölkchen" in den Straßen von Paris, sondern auch von einem alarmierenden Bericht zum Zustand der französischen Armee. "Unerwartet, wie ein plötzliches Gewitter brach ... die Anklagerede des Senators Humbert in die allgemeine parlamentarische Mattigkeit", schreibt er.

Der kenntnisreiche Politiker zeigt auf, welch massive Probleme es hier gebe: Die schwere Artillerie stehe bedenklich hinter der deutschen zurück, die Grenzforts zwischen Toul und Verdun stammten noch aus dem Jahre 1875, seien also hoffnungslos veraltet, pro Soldat stünden nur anderthalb paar Schuhe bereit - und das "halbe Reservepaar" sei dreißig Jahre alt.

Georges Clemenceau, damals ehemaliger und ab 1917 erneut Ministerpräsident des Landes, bewegen die Ausführungen zu dem verzweifelt klingenden Ausruf: "Wir sind weder verteidigt noch regiert!" In der Folge sei eine heftige Debatte unter Mitgliedern verschiedener politischer Parteien entbrannt, berichtet der Korrespondent. Die Franzosen beklagen also ihre eigene Wehrlosigkeit, während doch im Deutschen Kaiserreich die zuvor in Frankreich erfolgte Anhebung der Dienstzeit für Soldaten auf drei Jahre Befürchtungen nährt, schon bald einem sehr viel größeren französischen Heer gegenüberzustehen als bislang.

Doch nicht nur das Geschehen in den unmittelbaren Nachbarstaaten beschäftigt die Münchner Neuesten Nachrichten an diesem Freitag im Juli. Auf Interesse stößt auch das Geschehen im fernen Mexiko, wo der diktatorisch regierende Präsident Victoriano Huerta seinen Rücktritt erklärt, nachdem er - inzwischen ohne Rückendeckung der USA - den revolutionären Kräften des Landes nichts mehr entgegenzusetzen hat. Rebellengeneral Pancho Villa reagiert dem Bericht zufolge prompt - und kündigt an, dass sich die gesamte aufständische Armee "binnen einer Woche auf dem Marsche gegen die Hauptstadt befinden" werde.

Aus Russland kommt nach der revidierten Falschmeldung über den Tod Rasputins ein biographischer Abriss über den Wunderheiler und Propheten, der dessen Treiben in kein besonders gutes Licht setzt. Man erzähle sich in Sankt Petersburg die unglaublichsten Dinge über die "schamlosen Orgien, die der Heilige und Wundertäter Rasputin mit den von ihm betörten Frauen und Mädchen verübt hatte", heißt es. Schwärmerinnen, zu denen auch "hohe, sehr hochgestellte Damen" gehören (darunter die Zarin), hielten den früheren sibirischen Bauern für einen Heiligen, andere für einen Betrüger und "abgefeimten Schurken". Letzteres träfe zu, heißt es.

Ausführlich gewürdigt wird hingegen die Schriftstellerin Ricarda Huch. Die Abendausgabe der Zeitung liefert eine regelrechte Eloge auf die Schriftstellerin, die am nächsten Tag 50 Jahre alt wird. Huch vereine "männlichen Geist ... mit allen Vorzügen weiblicher Psyche, genialen Schöpferwurf und umfassendes Wissen mit blühender Phantasie, tiefgreifendes, wägendes Denken mit betörender Süßigkeit."

Spröde wirkt im Vergleich dazu der von einem nicht näher bezeichneten "Fachmann" geschriebene Artikel über die Aufgaben des kommenden Weltpostkongresses. Doch die Themen, die hier aufgezeigt werden, sind für das alltägliche Leben von großer Relevanz. Geht es doch darum, dass die 75 Mitglieder, auf die der Weltpostverein seit seiner Gründung 40 Jahre zuvor angewachsen ist, sich Transitfreiheit von Briefsendungen garantieren wollen. Zudem ist geplant, das Briefporto in allen Ländern einheitlich zu regeln.

Am 10. September soll der Kongress in Spaniens Hauptstadt Madrid zusammentreten. Doch der Weltkrieg wird dem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung machen. Das geplante Treffen in Madrid wird sich um sechs Jahre verschieben. Erst im Oktober 1920 werden die Delegierten in Madrid über die Zukunft des internationalen Postverkehrs verhandeln.

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