Münchner Neueste Nachrichten vom 4. Juli 1914:Bombe im Klosett

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Münchner Neueste Nachrichten vom 4. Juli 1914 (Foto: Daniel Hofer)

Vor 100 Jahren beruhigt sich die Nachrichtenlage nach dem Attentat auf Österreichs Thronfolger. Die SZ-Vorgängerin berichtet von bizarren Details um den Mordfall, einem Jahrhunderthagel in Franken und von deftiger Soldatensprache.

Von Oliver Das Gupta

SZ.de dokumentiert, wie die Münchner Neuesten Nachrichten vor 100 Jahren über den Weg in den Ersten Weltkrieg berichtet haben. Die Tageszeitung war die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung.

Die frischeste Nachricht in der Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 4. Juli 1914 kommt aus Mittelfranken. "Am Abend entlud sich nach drückender Schwüle ein Gewitter" über Nürnberg, heißt es in dem Privattelegramm. Mit einher ging ein "Hagelwetter", wie es "wohl seit Menschengedenken nicht mehr vorgekommen ist".

Groß wie Haselnüsse sei der Hagel gewesen, der immensen Schaden angerichtet habe. Die Rede ist von überfluteten Kellern und Straßen, selbst die Tram habe ihren Betrieb teilweise einstellen müssen. Auch "Nürnbergs herrlicher Fensterschmuck an Blumen ist zum größten Teil vernichtet".

Dass in wenigen Wochen keiner mehr vom Unwetter, aber alle vom Krieg reden werden, weiß der Zeitungsleser vor 100 Jahren nicht - aber, wie inzwischen dokumentiert ist, einige Männer in Wien und Berlin. In beiden Hauptstädten erstarken die Lager der Kriegstreiber. In der Zeitung vor 100 Jahren ist lediglich verspätet zu lesen, dass Österreichs Kaiser Franz Joseph I. den deutschen Botschafter Heinrich von Tschirschky "in einstündiger Audienz" empfängt.

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Mit Aufnahmen von SZ Photo.

Wie heute bekannt ist, kanzelt der deutsche Diplomat in jenen Tagen Kriegspläne des austriakischen Militärs gegen Serbien im Namen Berlins ab. Als der deutsche Kaiser Wilhelm II. davon erfährt, ist er sehr erbost - der Monarch schwadroniert davon, dass es Österreichs Sache sei, wie es auf das Attentat reagiere. Mit den Serben müsse aufgeräumt werden. Diese Diktion sollte Botschafter Tschirschky in den nächsten Tagen übernehmen.

Doch in der Zeitung steht nichts von alledem. Die Nachrichtenlage scheint sich nach der Aufregung um den Anschlag von Sarajevo zu beruhigen. Die Ermordung von Franz Ferdinand und seiner Frau Sophie wird erst auf Seite 4 behandelt. Von den Trauerfeierlichkeiten in Österreich wird geschrieben (allerdings wird verschwiegen, dass es sich um ein relativ schlichtes, nach dem damaligen Befinden "Begräbnis dritter Klasse", handelte).

Die internationale Anteilnahme ist nach wie vor groß. In London gibt es zu Ehren der Toten ein Requiem in der katholischen Kathedrale zu Westminster, zu dem der britische König einen Prinzen als Vertreter schickt. In Kiel feuern Kriegsschiffe 21 Schuss Salut.

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Franz Ferdinands Passion war die Jagd, sein Auftreten war schroff, sein Ende brutal - Bilder des österreichischen Thronfolgers, der dessen Ermordung in Sarajevo 1914 den Ersten Weltkrieg auslöste.

In Russland beschäftigt sich unter Vorsitz des Zaren ein außerordentlicher Ministerrat mit der Causa. Die enge Verbindung zwischen Sankt Petersburg und Belgrad zeigt sich auch in diesen Tagen: "Es wurde erwogen, ob die antiserbische Agitation etwa zu internationalen Verwicklungen führen könnte und welche Maßnahmen dagegen zu treffen wären." Wenig später wird Russland in den Krieg ziehen, um Serbien beizustehen.

Antiserbischer Protest in Wien

Bizarr wirkt die Meldung, wie ein in Sarajevo verhörter Mit-Verschwörer den Verbleib seines Sprengsatzes erklärte, den er auf nicht auf Franz Ferdinand werfen konnte. Nach den Schüssen habe er seine Bombe "in ein Klosett geworfen". Nun werde die Straße aufgerissen, um in der Kanalisation nach ihr zu suchen.

In Wien kommt es nach wie vor zu wütendem Protest vor der serbischen Botschaft. Als die Obrigkeit die Straße sperrte, um die Gesandtschaft zu schützen, entlud sich der Zorn der mehreren hundert Demonstranten. Neben Schmährufen gegen Serbien wurden auch Schmährufe gegen die Polizei laut.

Der Lokalteil bringt an jenem Samstag vor 100 Jahren "Redensarten unserer Soldatensprache". So heißt eine Portion Limburger Käse in der königlich bayerischen Armee "Unteroffiziersripperl", ein Reserveoffizier "Reservechristus" und die Soldaten des Leib-Infanterie-Regiments "Heufresser".

Auf den Titel ist ein ausführlicher Nachruf auf den britischen Staatsmann Joseph Chamberlain gedruckt. Der Imperialist war von der Überlegenheit Europas über Kontinente wie Afrika überzeugt.

Als Kabinettsmitglied versuchte er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts an einer Annäherung zu Deutschland. Als das scheiterte bastelte Chamberlain an einem Zusammengehen mit Frankreich - ein Bündnis, das schon kurz nach Chamberlains Tod seine Wirkmächtigkeit zeigte.

Chamberlains Söhne sollten ebenfalls in die Politik gehen. Austen wird in den 1920er Jahren als Außenminister des Vereinten Königreichs den Friedensnobelpreis erhalten ( hier mehr dazu). Neville Chamberlain, der andere Junior, sollte es sogar zum Premierminister bringen. 1938 wird er mit seiner Appeasement-Politik versuchen, Adolf Hitler und sein Regime zu bändigen - und dabei die Tschechoslowakei den Deutschen preisgeben.

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Knapp ein Vierteljahrhundert vorher endet der Nachruf auf Joseph Chamberlain in der Samstagsausgabe des 4. Juli 1914 mit dem Satz: "In seiner letzten Agitation hat Chamberlain Deutschland insofern ein großes Kompliment gezollt, als er es seinem Volk beständig als Vorbild hinstellte".

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