Medizin:Das Bein des einen opfern, um das Leben des anderen zu retten

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Unfallchirurgen simulieren im Frankfurter Uniklinikum die Versorgung von Verletzten nach einem Bombenanschlag. (Foto: dpa)

Wie reagiert man richtig bei einem Terroranschlag? Mediziner der Bundeswehr bringen das Klinikärzten bei - beim Brettspiel.

Von Kristiana Ludwig, Frankfurt

Auf dem Bild der Überwachungskamera läuft ein Mann, zur Seite gebeugt, so als würde er ein Sturmgewehr tragen. Die Nachricht lautet: "Attentäter?! Jemand hat eine verdächtige Person in der Notaufnahme entdeckt." Chefarzt Michael Euler blickt sich um. Die junge Frau, die Sanitäter unter einem Kleinbus geborgen haben, liegt noch im Schockraum. Nach der Explosion in der Innenstadt sind die Menschen in Gruppen ins Krankenhaus gekommen, sie haben Ohrenschmerzen und Verbrennungen, sie atmen schwer. Einige bluten stark. Doch solange der verdächtige Mann im Haus umherirrt, dürfen Pfleger und Ärzte die Notaufnahme nicht betreten. "Der Attentäter verschafft ihnen Ruhe", sagt der Bundeswehr-Instruktor. Euler grinst.

Dieses Szenario ist eine Übung. Chefarzt Euler ist heute von seinem Marien-Hospital im rheinischen Erftstadt zur Uniklinik Frankfurt gefahren, um dort vom Militär zu lernen, wie er das Krankenhaus auf einen Terroranschlag vorbereitet. Im Ringelhemd sitzt er jetzt neben einem Arzt aus Bonn, einem fahrigen Herrn mit Halbglatze, und einem Frankfurter Oberarzt im Poloshirt.

Steinchen, Würfel und ein dickes Code-Buch

Mit den beiden spielt er ein Brettspiel: Jede Spielkarte steht für einen Patienten, jedes Kästchen für ein Bett. Es gibt Steinchen, Würfel und ein dickes Code-Buch, aus dem sich die Männer gegenseitig komplexe Diagnosen vorlesen. Chefärzte aus ganz Deutschland sollen auf diese Weise lernen, wie sie bei einem großen Andrang von schwer verletzten Patienten ihre Prioritäten setzen. "Life before limb", sagen die Militärärzte: Um das Leben des einen zu retten, das Bein des anderen opfern. Dieses Denken wollen sie nun zivilen Chirurgen beibringen.

Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und drei weiteren ärztlichen Fachgesellschaften haben Mediziner der Bundeswehrkrankenhäuser in Ulm und Koblenz den Lehrgang "Terror- und Katastrophenchirurgie" entwickelt. Denn die Verletzungen, die Menschen von einem Anschlag davontragen, kennen deutsche Chirurgen aus ihrem Alltag kaum. Explosions- und Schusswunden haben deutsche Sanitäter bislang meist nur in Kriegsgebieten verarztet.

Oberstarzt Robert Schwab, der mehr als ein Jahr in Afghanistan gearbeitet hat, gibt den Chirurgen deshalb ein paar Faustregeln: Hat ein Schuss den Patienten unter der Brust und über der Leiste getroffen, dann muss er operiert werden. Statt wie üblich vorsichtig die Hautschichten zu öffnen, empfiehlt er: "Mit der Schere rein und runter." Von einem Loch im Brustraum abwärts. Ist die Blutung im Bauch gestillt, bleibe auch für das Zunähen keine Zeit. Bei seinem Vortrag zeigt Schwab den Ärzten Fotos von Soldaten, deren offene Wunden er mit Tüchern bedeckt hat. Anschließend: Folie drauf, vielleicht ein aufgeschnittener Beutel - und weiter. Schwab bietet bereits seit drei Jahren Praxiskurse für zivile Mediziner an. Auch Chefarzt Euler aus Erftstadt hat bei ihm Noteingriffe geübt. Er operierte mit Schwab ein großes Schwein am schlagenden Herzen.

Ein Militärchirurg aus Koblenz hat den deutschen Krankenhauskollegen eine Tabelle mitgebracht: 1966 Saigon, 1986 Berlin, 2001 New York. Die Liste weltweiter Attentate verknüpft er mit Zahlen zu Lungenschäden. Terroropfer würde er immer auf den Bauch drehen, erklärt er.

Ein Anästhesist mit Drei-Millimeter-Haarschnitt erklärt den Doktoren Schuss- und Explosionsverletzungen. "Das blutet aus allen Löchern", sagt er. Nach der Kaffeepause brüllt er Michael Euler an: "Einrücken!" Der lächelt, hebt die Hand an seine Schläfe, und fragt: "Was soll ich jetzt machen?"

Opfer, die direkt zum Krankenhaus kommen

Michael Euler lernt gerne dazu. Vor sieben Jahren war er einmal selbst im Zentrum einer Katastrophe, beinahe jedenfalls. Am 24. Juli 2010 war er leitender Oberarzt in Düsseldorf, als ein Notruf per Fax einging. In Duisburg, bei der Loveparade, gab es Verletzte und Tote. Euler holte 70 Mitarbeiter in die Klinik, bereitete vier Operationssäle und die Ambulanz vor. Dann verfolgten sie die Fernsehnachrichten und warteten. Doch am Ende des Tages waren bloß drei Patienten nach Düsseldorf gekommen.

In der Klinik in Duisburg dagegen, die Loveparade-Besucher zu Fuß erreichen konnten, herrschte zur selben Zeit größtes Gedränge. In der Notaufnahme und vor der Eingangstür saßen etliche Verletzte. Angehörige riefen ununterbrochen an, das Handynetz brach zusammen. So ähnlich beschreiben die Bundeswehr-Ärzte nun auch, worauf sich Kliniken nach Terroranschlägen einstellen müssen: Opfer, die direkt zum Krankenhaus kommen, dazu eine unklare Lage und mögliche Zweit-Schläge.

Es entstünden "Verletzungsmuster, die wir in den letzten 60 Jahren in Friedenszeiten hier in Deutschland nicht gesehen haben", sagt der DGU-Generalsekretär Reinhard Hoffmann. Er fordert, dass Bund und Länder Katastrophenübungen wie diese überall zur Pflicht machen und sie auch bezuschussen. Denn in den Etats der Kliniken sei so etwas nicht eingerechnet, bislang arbeiteten die Instruktoren ehrenamtlich. Zumindest sollten aber Rettungswagen Material bekommen, damit Schusswunden richtig verbunden werden können.

© SZ vom 20.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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