Berlin/München - Der Bundesregierung steht eine neue Diskussion über Abschiebungen nach Afghanistan bevor. Fast ein Jahr später als ursprünglich angekündigt, hat das Auswärtige Amt jetzt einen neuen Bericht über die Lage in dem Land am Hindukusch fertiggestellt. Aus dem 30-seitigen Papier, das Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR vorliegt, geht hervor, dass sich die Sicherheitslage im vergangenen Jahr nur punktuell verbessert und Afghanistan weiter mit Krieg, Armut und Korruption zu kämpfen habe.
Der Bericht soll als Grundlage für eine Neubewertung der Abschiebepraxis dienen. Dies dürfte wegen des erklärten Zieles der großen Koalition, die Zahl der Abschiebungen grundsätzlich zu erhöhen, zu heftigen Debatten führen. Derzeit gilt ein Abschiebestopp, von dem Straftäter und terroristische Gefährder sowie abgelehnte Asylbewerber, die sich hartnäckig einer Identitätsfeststellung verweigern, ausgenommen sind. Diesen weitgehenden Abschiebestopp hatte Berlin im Einvernehmen mit den Ländern nach einem Anschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Frühjahr 2017 verhängt, bei dem mehr als 150 Menschen getötet wurden.
Die Lage in Afghanistan ist noch immer desaströs
Der Bericht, dessen Fertigstellung sich nach Angaben des Außenministeriums vor allem wegen der eingeschränkten Arbeitsfähigkeit der zwischenzeitlich bei den Amerikanern untergebrachten deutschen Botschaft verzögerte, enthält keine Empfehlungen für die Abschiebepraxis, sondern soll dem Asylbundesamt und Gerichten als Entscheidungshilfe dienen.
Bamf-Affäre:Barley will Asylbescheide überprüfen lassen
Bundesjustizministerin Katarina Barley hat angeregt, in Stichproben deutschlandweit Asylbescheide auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Damit soll Vertrauen wieder hergestellt werden.
Noch immer ist die Lage in Afghanistan in vielen Bereichen desaströs - das ist die Quintessenz des Berichts. Die Sicherheitslage sei unterschiedlich: hier Gegenden, wo aktiv gekämpft werde, dort recht stabile Provinzen. Die Zahl der zivilen Opfer sei 2017 im Vergleich zum Vorjahr zwar um neun Prozent gesunken, aber dies auf sehr hohem Niveau: Mehr als 10 000 Zivilisten seien Opfer von Kämpfen und Anschlägen geworden, 3438 von ihnen seien getötet worden, darunter 861 Kinder. Im ersten Quartal 2018 gab es bereits wieder 763 getötete Zivilisten. Das Justizsystem funktioniere "nur sehr eingeschränkt", die Verwaltung sei "nur eingeschränkt handlungsfähig", die humanitäre Lage weiter "schwierig" und die Bevölkerung in den Konfliktgebieten chronisch unterversorgt. Immerhin, "Fortschritte" habe Afghanistan bei den Menschenrechten gemacht, eine selbstbewusste Generation von Afghanen gebe der Zivilgesellschaft eine starke Stimme. Doch schon im nächsten Satz schränkt das Auswärtige Amt ein: Außerhalb der Städte seien die Fortschritte nur schwer durchzusetzen, zu groß sei die Willkür von Amtsträgern und Richtern.
Seit 2002 sind fast 6 Millionen geflüchtete Afghanen zurückgekehrt
Dieses Muster zieht sich durch den ganzen Bericht: Kaum ist eine positive Entwicklung benannt, folgt ein großes Aber. Zwar gebe es keine systematische staatlich organisierte Gewalt gegen die eigene Bevölkerung, doch die Regierung sei "häufig" nicht in der Lage, ihre Bürger zu schützen, auf lokale Machthaber habe Kabul "seit je nur beschränkten Einfluss". Zwar ist die Religionsfreiheit in der Verfassung verankert - doch aufgrund des Scharia-Vorbehalts gelte die Glaubensfreiheit nur eingeschränkt, auf die Abkehr vom Islam stehe die Todesstrafe.
"Insgesamt verbessert" habe sich die Situation der Kinder, immerhin zwei Drittel von ihnen würden inzwischen eingeschult. Allein, weiterhin würden Kinder von regierungsfeindlichen Truppen rekrutiert, aber nicht nur von diesen: auch von afghanischen Sicherheitskräften. Zudem stelle der sexuelle Missbrauch von Kindern weiter ein großes Problem dar, vor allem durch Angehörige von Polizei und Militär.
Vor dem Hintergrund der Abschiebedebatte ist auch die Lage der Rückkehrer von Bedeutung. "Die größte Rückkehrbewegung der Welt" erlebe das Land gerade, wird der UNHCR zitiert. Seit 2002 seien 5,8 Millionen Afghanen in ihre Heimat zurückgekehrt. "Häufig misstrauisch" betrachte die Gesellschaft Rückkehrer aus Europa, so das Auswärtige Amt. Ihm seien aber keine Fälle bekannt, in denen diese wegen ihres Aufenthalts im Westen Opfer von Gewalt geworden wären. Aber auch das wird eingeschränkt: Das europäische Asyl-Büro EASO berichte von versuchten Entführungen von Rückkehrern.