Kolumbien:"Das ist unfassbar! Das ist absurd!"

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Viele Kolumbianer reagieren entsetzt auf das Referendums-Nein zum Friedensvertrag. Doch die Farc und Präsident Santos machen klar: Es ist noch nichts verloren.

Von Boris Herrmann, Bogotá

Als das Wahlergebnis, das niemand wahrhaben will, feststeht, klappt beim Public Viewing in Kolumbiens Hauptstadt Bogotá ein junges Mädchen zusammen. Ein Radioreporter weint an der Schulter einer verzweifelten Mutter, die er interviewen wollte. Der Rektor eines Gymnasiums schreit in den Himmel: "Das ist unfassbar! Das ist absurd!" Sie alle und viele Hundert andere sind in den Parque de los Hippies gekommen, um den Frieden zu feiern. Jetzt benutzen sie ihre weißen Fahnen als Taschentücher.

Der Rektor Walter Abondono, 57 Jahre alt, fragt sich: "Was soll ich morgen meinen Schülern sagen? Dass dieses Land keine Zukunft hat?" Das junge Mädchen, das auf dem Boden liegt, spricht man lieber nicht an. Die zweifache Mutter Olga Noriega meint: "Im Ausland werden sie jetzt sagen, die Kolumbianer seien verrückt."

Das ist nicht auszuschließen. Die Kolumbianer hatten am Sonntag die einmalige Gelegenheit, einen der ältesten bewaffneten Konflikte der Welt auf demokratische Weise zu beenden. Es hat nur noch ein Ja gefehlt nach 52 Bürgerkriegsjahren mit mindestens 220 000 Toten und vier zähen Verhandlungsjahren mit den kriegsmüden Rebellen von der Farc-Guerilla. 21 Millionen von 34 Millionen Wahlberechtigten sind aber nicht zur Abstimmung gegangen. Der Rest sagte mehrheitlich Nein. Die vor allem vom ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe geschürte Angst hat wohl über das Verzeihen gesiegt. Allerdings denkbar knapp: Der in Havanna ausgehandelte und international gefeierte Friedensvertrag wurde mit einem Vorsprung von gerade einmal 54 000 Stimmen abgelehnt. Aber es ist ja schon verrückt genug, dass es für den Frieden überhaupt knapp werden kann, in so einem kriegsgeplagten Land.

Kolumbien
:Die Kolumbianer trauen dem Frieden nicht mehr

Präsident Santos war bereit, den Farc-Rebellen zu vergeben. Er scheiterte an den Kriegstreibern im Land und an der Apathie vieler Kolumbianer. Er sollte jetzt erst recht den Friedensnobelpreis erhalten.

Kommentar von Sebastian Schoepp

UN-Truppen sind bereits im Land, doch aus der Entwaffnung wird nun nichts

Niemand hat damit ernsthaft gerechnet, am wenigsten die Demoskopen. Alle Umfragen prophezeiten einen Sieg der Befürworter, zuletzt mit mehr als 30 Prozent Vorsprung. Ein historisches Versöhnungsfest fand bereits vor einer Woche in Cartagena statt. Bei der Wahlparty der Ja-Sager wurden am Sonntag schon vor der ersten Hochrechnung die Sieger-T-Shirts verteilt, auf dem Einlassbändchen stand "Ganó la Paz", der Frieden hat gewonnen. Als Stargast war Präsident Juan Manuel Santos, 65, angekündigt, der als der große Versöhner in die Geschichte eingehen will und jetzt erst einmal als großer Verlierer dasteht. Sein Auftritt fiel natürlich aus. Fraglich ist, was jetzt noch alles ausfällt. Die überfällige Bodenreform? Die Entschädigung der Kriegsopfer? UN-Truppen sind bereits im Land, um die Entwaffnung der Farc zu kontrollieren. Diese Woche sollte es losgehen, auch daraus wird nun nichts. Die Furcht geht um, dass wieder geschossen und gebombt wird wie eh und je.

Zwei lange Stunden der Ungewissheit vergehen am Sonntagabend, bis sich Santos in einer Fernsehansprache an das Volk wendet. Es ist zweifellos die schwierigste Rede seiner Karriere. Er hat diesem Friedensabkommen alles untergeordnet. Verloren hat nun auch sein Lebenswerk. Der passionierte Pokerspieler hat es aus Sicht seiner Verhandlungspartner von den Farc mutwillig aufs Spiel gesetzt. Dieses Referendum wäre genau wie jenes neulich in Großbritannien nicht zwingend nötig gewesen. Santos vertraute darauf, dass der gesunde Menschenverstand siegen würde. Und er hat sich damit (genau wie David Cameron) verzockt.

Viele Beobachter vermuteten deshalb, dass er (wie Cameron) nun seinen Rücktritt erklären würde. Diesmal irren jedoch die Beobachter. Santos redet nur vier Minuten lang, die haben es allerdings in sich. "Meine Hauptaufgabe ist jetzt, die Stabilität des Staates zu garantieren", sagt er. Seine Botschaften sind: Der Waffenstillstand mit den Farc bleibt in Kraft. Und: Es wird weiterverhandelt.

Damit war nicht unbedingt zu rechnen, schon deshalb nicht, weil Santos bis zum Tag der Abstimmung das Gegenteil behauptet hatte. Falls der Vertrag abgelehnt werde, gebe es kein Zurück zum Verhandlungstisch, hatte er betont. Auch das war die Strategie eines Pokerspielers. Er stellte die Kolumbianer vor die Wahl: Krieg oder Frieden. Nun, da sie sich gegen diesen Frieden entschieden haben, interessiert ihn das nicht mehr. Glücklicherweise, muss man wohl sagen. Santos hat entschieden, dass die Zukunft seines Landes wichtiger ist als sein Geschwätz von gestern.

Es gilt als ausgeschlossen, dass die Guerilleros ihr eigenes Gefängnisurteil unterschreiben

Mindestens ebenso wichtig ist die Erklärung, die Farc-Anführer Rodrigo Lodoño alias Timoschenko wenig später aus dem Exil in Havanna abgibt: "Das kolumbianische Volk, das vom Frieden träumt, kann auf uns zählen", verkündet er. Auch die Guerilleros scheinen bereit zu sein, das Abkommen neu auszuhandeln. Was aus ihrer Perspektive nur bedeuten kann, dass sich die Bedingungen verschlechtern.

Die größten Vorbehalte gegen diesen Friedensvertrag bezogen sich auf die Übergangsjustiz, die eine weitreichende Amnestie für geständige Täter vorsah. Die Anführer der Guerilla, die für Tausende Tote und Vertriebene verantwortlich sind, wären demnach wohl größtenteils ohne Gefängnisstrafen davongekommen, ausgenommen waren völkerrechtliche Verbrechen sowie schwere Einzeltaten wie etwa Folter. Rechtsexperten aus aller Welt halten diese Regelung für friedensnobelpreisverdächtig. Viele Kolumbianer empfinden sie als ungerecht. Álvaro Uribe, der Häuptling der Neinsager, wusste das auszunutzen. Wer für dieses Abkommen stimme, liefere den Staat an die Terroristen der Farc aus und ebne den Weg in eine linke Diktatur, hatte er gepoltert. Es wird nun kein Weg daran vorbeiführen, diesen rechtspopulistischen Scharfmacher an der Neuauflage der Friedensverhandlungen zu beteiligen.

Auch Uribe meldete sich am Sonntagabend per Videobotschaft, von seiner Finca im Department Antioquia aus, wo 62 Prozent der Wähler gegen den Vertrag von Havanna stimmten. Er sei wie alle Kolumbianer für den Frieden, sagte Uribe. Es müsse aber sichergestellt werden, dass den Opfern der Farc Gerechtigkeit widerfahre. Das kann aus seiner Sicht nur langjährige Haftstrafen bedeuten. Es gilt aber als ausgeschlossen, dass Timoschenko und seine Genossen ihr eigenes Gefängnisurteil unterschreiben werden. Wie der Friedensprozess diesen unauflösbaren Widerspruch überleben soll, ist die größte Frage, die nach diesem Referendum bleibt.

© SZ vom 04.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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