Holocaust-Gedenken im Bundestag:Auschwitz-Überlebende preist deutsche "Großherzigkeit" gegenüber Flüchtlingen

  • Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger lobt beim Gedenken im Bundestag die deutsche Offenheit gegenüber Flüchtlingen - und erhält dafür spontanen Beifall.
  • Der Hauptteil ihrer Rede ist allerdings einem anderen Thema gewidmet: den unmenschlichen Bedingungen, unter denen Zwangsarbeiter und vor allem Zwangsarbeiterinnen in Nazi-Deutschland schuften mussten.
  • Für Klüger war die Zwangsarbeit aber auch ein "Glück", entging sie doch nur so einem fast sicheren Tod.

Von Barbara Galaktionow

Es ist vor allem eine Stelle, an der beim diesjährigen Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus spontaner Applaus aufbrandet. Ruth Klüger, Holocaust-Überlebende und Hauptrednerin im Bundestag, betont, dass Deutschland, "dieses Land, das vor achtzig Jahren für die schlimmsten Verbrechen des Jahrhunderts verantwortlich war", heute den Beifall der Welt gewonnen habe. Und zwar "dank seiner geöffneten Grenzen und der Groβherzigkeit, mit der Sie syrische und andere Flüchtlinge aufgenommen haben und noch aufnehmen". Und nicht nur Klüger scheint diese Offenheit gegenüber Flüchtlingen zu begrüßen, wie der große Beifall zeigt.

Dies, so sagt die 84-Jährige weiter, sei der "Hauptgrund", warum sie mit so großer Freude die Einladung nach Berlin angenommen habe, in diesem Rahmen über die früheren Untaten sprechen zu dürfen. Sie verweist auf den vielfach angezweifelten und angefeindeten Wahlspruch von Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage: Hier sei und entstehe ein "gegensätzliches Vorbild", "mit dem bescheiden anmutenden und dabei heroischen Slogan: Wir schaffen das."

Damit endet die Rede Klügers (hier der Text der gesamten Rede). Und selbst Abgeordnete, die die Linie der Kanzlerin nachweislich nicht unterstützen, wie CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt, klatschen. Die so gelobte Merkel hingegen schluckt erst kurz - so zeigen es die Fernsehkameras. Dann applaudiert auch sie.

Und wie könnte man Klüger auch nicht Beifall spenden - selbst bei gegensätzlichen politischen Ansichten? Mit leichtem Wiener Akzent, anfangs zögerlich, dann immer bestimmter, erinnert sie an das Schicksal der Millionen Zwangsarbeiter und vor allem der Zwangsarbeiterinnen im Dritten Reich.

Ein Schicksal, das sie selbst auch teilt. Mit nur zwölf Jahren wurde die 1931 in einem jüdischen Elternhaus in Wien geborene Klüger von den Nazis deportiert. Sie kam mit ihrer Mutter ins KZ Theresienstadt, später nach Auschwitz-Birkenau, dann als Zwangsarbeiterin ins Frauenlager Christianstadt, einem Außenlager des KZ Großrosen in Niederschlesien (heute Polen).

Wald roden, Holz hacken, Schienen tragen

Dass sie überhaupt im Arbeitslager landete, es war ein Zufall, ein "Glück", wie sie es selbst nennt. Denn nur, weil es ihr, zwei Minuten, bevor sie mit einem SS-Mann sprach, von einer "freundlichen Schreiberin, ein Häftling" wie sie selbst, "eingeflüstert" worden sei, habe sie sich als 15 ausgegeben. Dadurch sei sie zum Zwangsarbeitsdienst eingeteilt worden - anstatt sofort in die Gaskammer zu kommen. "Vor allem war die erdrückende Todesangst vorbei", erinnert sich Klüger.

Doch es war nur ein Moment der Erleichterung in finsterer Zeit. Klüger schildert, was Millionen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter im NS-Reich ertragen mussten: die körperlich vor allem für Frauen und Unterernährte viel zu harte Arbeit - "wir haben den Wald gerodet, die Stümpfe schon gefällter Bäume ausgegraben und weggebracht; auch Holz gehackt und Schienen getragen." Die Schikane durch die NS-Wärter beim Appell - "stehen, einfach stehen" sei ihr heute immer noch widerlich, dass sie oft einfach aus einer Schlage weggehe. Die ewige Kälte - "der Winter von 1944/45 war der kälteste Winter meines Lebens". Und den quälenden Hunger, der selbst von vermeintlich wohlwollenden deutschen Vorarbeitern ignoriert wurde.

Zwangsarbeiterinnen, für Nazis bloß "Menschenmaterial"

Nicht nur die Zwangsarbeiter an sich sind Klügers Thema, sondern vor allem die Frauen, die Zwangsarbeiterinnen, die körperlich schwächer und zudem selten in irgendeiner Form ausgebildet, von den Nazis noch stärker als "Menschenmaterial" angesehen wurden, das man verheizen könne. "Man konnte sie ruhig bis zum Verhungern ausnützen. Fast niemand im Lager menstruierte, dazu braucht's ein gesünderes Leben", sagt Klüger, deren Augenmerk für feministische Themen sowohl als tendenziell unglückliche Ehefrau als auch im Universitätsbetrieb der Nachkriegsjahre in den USA geschärft wurde.

Zwangsprostituierte in den Lagern

Obwohl oder gerade weil sie es selbst bis zur Germanistik-Professorin an der US-Universität Princeton schaffte, war ihr die strukturelle Benachteiligung von Frauen stets bewusst. Und sie veröffentlichte nicht nur die viel gelesene Autobiographie "Weiter leben", sondern auch Bücher darüber, was Frauen schreiben oder warum Frauen anders lesen als Männer (hier ein Artikel Klügers dazu in der Zeit).

Und so verweist die anerkannte Literaturwissenschaftlerin in ihrer Ansprache auch auf eine spezifisch weibliche Form der Zwangsarbeit, die aber lange Jahre gar nicht als solche anerkannt wurde: die "sexuelle Zwangsarbeit". Auf Anordnung Himmlers mussten weibliche Häftlinge bestimmten Mithäftlingen zum "serienmäßigen Geschlechtsverkehr" zur Verfügung stehen. Klüger betont, was besonders bitter gewesen sei: dass die missbrauchten Frauen keinerlei Anspruch auf Wiedergutmachung erhalten hätten - im Gegensatz zu anderen Zwangsarbeitern.

Klüger selbst konnte der Todesmaschinerie der Nationalsozialisten gegen Kriegsende entrinnen: Zusammen mit ihrer Mutter floh sie von einem sogenannten Todesmarsch (hier mehr darüber und über andere Endphaseverbrechen) auf dem Weg ins KZ Bergen-Belsen.

Bundestagspräsident Norbert Lammert hatte beim Holocaust-Gedenken im Bundestag zuvor bereits betont, dass Zwangsarbeit in der NS-Diktatur ein "Massenphänomen" war, das "für jeden sichtbar" gewesen sei. Auch Klüger stellt fest, dass man sich womöglich darüber streiten könne, ob die deutsche Zivilbevölkerung vom Massenmord an den Juden gewusst habe. Die "massenhafte Ausbeutung durch Zwangsarbeit" sei jedenfalls sehr wohl bekannt gewesen.

Doch inzwischen, so sagt Klüger, seien zwei oder sogar drei Generationen ins Land gegangen. Deutschland, so lässt sich aus ihren Worten schließen, gibt gerade in jüngster Zeit in der Flüchtlingsfrage ein neues Bild ab. "Es gab eine Zeit, als meinesgleichen, also die Juden, ausgestoßen oder getötet wurden in diesem Land. Und plötzlich ist da eine Regierung, die Flüchtlinge, die in Lebensgefahr sind, aufnimmt", hatte Klüger in einem Interview vor ihrer Rede im Bundestag gesagt. Und durch ihre Rede, aber auch allein durch ihre Anwesenheit im Reichstag ermuntert sie die Bundesregierung, diesen Weg weiterzuschreiten, "trotz Hindernissen, Ärgernissen, Rückschlägen, Zweifeln".

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: