Häkelhäubchen für die Bundeswehr:Das haarige Heer

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Vor 40 Jahren erlaubte Verteidigungsminister Helmut Schmidt den Bundeswehrsoldaten das Tragen langer Locken - unter einem Haarnetz. Der Erlass brachte der "German Hair Force" einigen Spott ein - und galt nur kurz.

Lena Jakat

Der 8. Februar 1971 ist für die meisten ein Montag wie alle anderen Montage - nicht aber für die Soldaten der deutschen Bundeswehr. Als sie vom Wochenende zurück in ihre Kasernen kommen, erwartet sie eine brisante Nachricht, direkt vom Verteidigungsminister. Sie betrifft alle, unmittelbar und körperlich: Es geht um ihre Haare. Vorbei die Zeit der kalten Ohren, der kümmerlichen Kurzhaarschnitte, Freiheit endlich für den Soldatenkopf. Auch Mitgliedern der Truppe ist es ab sofort erlaubt, ihr Haar sprießen zu lassen.

40 Jahre Haarnetz-Erlass
:Rekruten mit Rockermähne

Langhaarige Bundeswehrsoldaten waren bis zum 5. Februar 1971 undenkbar. Doch der "Haarnetz-Erlass" des Verteidigungsministeriums sorgte für Wildwuchs unterm Stahlhelm - und löste eine gesellschaftliche Debatte aus.

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Es ist das Ergebnis einer haarigen Entwicklung, die in den sechziger Jahren begonnen hat. Lange Haare wurden zu einem Symbol des politischen Widerstands, zum Markenzeichen trotziger Rockmusiker - und dann zur Modeerscheinung. Anfang der siebziger Jahre ist wallendes Männerhaar höchstens noch ein Mittel im Kampf gegen die Autorität der Eltern. Lang ist in.

Nationalspieler Günter Netzer, Moderator Dietmar Schönherr und Johannes Rau, Zukunftshoffnung der SPD und späterer Bundespräsident: Sie alle lassen der Natur auf ihrem Kopf freien Lauf. Mit kurzen Haaren traut sich kaum noch einer in die Diskothek - dieses Schicksal bleibt Bundeswehrsoldaten nun erspart. Die Popkultur hat über die Komissköpfe im Verteidigungsministerium gesiegt.

Den Weg frei für die optische Revolution der Truppe machte der damalige Bundesverteidigungsminister und spätere Kanzler Helmut Schmidt (SPD). Er lässt in der Zentralen Dienstvorschrift 10/5 die Anlage 1 ändern. Der Schmidt'sche "Haar- und Barterlass" lautet ab sofort wie folgt: "Haare und Bart müssen sauber und gepflegt sein. Soldaten, deren Funktionsfähigkeit und Sicherheit durch ihre Haartracht beeinträchtig wird, haben im Dienst ein Haarnetz zu tragen." Haarnetze für die Truppe - welch radikaler Wandel zur bislang geltenden Regelung, verbot diese doch eine "schulterlange oder sonst wie feminin wirkenden Haartracht (zum Beispiel Beatles-Frisur)".

In amerikanischen Anti-Kriegs-Filmen symbolisiert der Gang des langhaarigen Rekruten zum Truppenfriseur Gleichmacherei, Unfreiheit und die Unterwerfung unter ein imperialistisches System. Zwar mögen sich manche mehr um den Verlust ihrer Coolness als um den ihrer politischen Ideale sorgen, doch auch hierzulande fürchten die Wehrpflichtigen kaum etwas so sehr wie die Schere des Friseurs. Sie beginnen aufzubegehren.

1967 weigern sich die Ersten, ihre Haare kurz schneiden zu lassen. Dem Stabsunteroffizier Alfred Weindl wird ein Friseurbesuch verordnet - "Oberlippe überwachsen, Koteletten bis zu 2 cm seitlich abstehend, langes, gekräuseltes Haar, im Nacken bis zum Hemdkragen reichend", heißt es in den Notizen seines Vorgesetzten. Weindl weigert sich, klagt und bekommt im Januar 1971 recht.

Unter der Schädeldecke

Wenige Wochen später erhalten sämtliche Kameraden Weindls das gleiche Recht per Ministererlass. In der Präambel der neuen Regelung heißt es: "Die Bundeswehr kann in ihrem Erscheinungsbild die Entwicklung des allgemeinen Geschmacks nicht unberücksichtigt lassen." Der nicht nur vom damaligen Wehrbeauftragten Fritz-Rudolf Schultz kritisierte Liberalismus Schmidts - wichtig sei, was "unter der Schädeldecke der Soldaten", nicht aber was auf ihr zu finden sei - hat weitreichende Folgen.

Die Bundeswehr muss Haarnetze zu Hunderttausenden anschaffen, allein 1971 gab das Ministerium für eine halbe Million olivfarbener Haarbändiger stattliche 180.000 D-Mark aus. Im Folgejahr wurden noch einmal knapp 300.000 Exemplare bestellt. Zwar ist man mit derlei Kopfbedeckung nicht völlig unbedarft - bereits in den sechziger Jahren lieh die Truppe weiblichen Zivilisten, die an Wehrübungen teilnahmen, sogenannte Haarsocken. Doch es dauert ein halbes Jahr, bis die Haarnetz-Reform-Kommission des Heeresamtes das eine Haarnetz identifiziert, das den "militärischen Forderungen" am besten entspricht: "Sie sind elastisch, sitzen fest, verursachen keine Druckstellen und sind immun gegen elektrische Aufladungen." Zudem habe das Modell die "ideale Tarnfarbe" - olivgrün natürlich.

Doch des Haarnetz-Händlers Freud ist des Truppenbarbiers Leid: Den Friseuren an den Bundeswehrstandorten bleiben die Kunden aus. Der Haar(wuchs)erlass rief in der Branche eine Woge der Entrüstung hervor. "Man hat unsere Existenz zerstört", verkünden die Münchner Kasernenfriseure. Der Unmut über die Truppe mit der Tolle bleibt jedoch nicht auf das Geschäftliche beschränkt. Viele Führungskräfte befürchten, die Bundeswehr mache sich dank Haarnetz lächerlich - nicht zu Unrecht: Im Ausland ist rasch die Rede von der "German Hair Force", Verteidigungsminister Schmidt wird 1972 für seine Haar-Revolution mit dem Aachener Karnevalsorden "Wider den tierischen Ernst" ausgezeichnet.

Eltern fürchten, ihre Sprösslinge könnten erst im Dienst der Truppe dem um sich greifenden Gammlertum samt Langhaarfrisur verfallen. So zitiert die Süddeutsche Zeitung eine besorgte Mutter: "Unser Holger war immer fleißig und ordentlich. Nun muss er zur Bundeswehr. Ich hab so Angst, dass er da verlottert." Ihre Befürchtungen scheinen nicht völlig grundlos; in seinem Jahresbericht 1971 beklagt der Wehrbeauftragte Schultz einen eklatanten Mangel an Disziplin. Die Rede ist von Sauftouren, Randalen und generellen Aufmüpfigkeiten. Schuld daran, natürlich, die neu erlangte Haarfreiheit. Die "nachlassende Manneszucht" habe das "Spannungsklima weiterhin verschärft", wird Schultz im Spiegel zitiert.

Und die Soldaten? Statt ihre neue Freiheit zu genießen, jammern sie schon bald über die Individualitätsbeschneidung durch das olivgrüne Haarnetz. Das teure Ausrüstungsstück wird bald mit einem "Zwiebelnetz", bald mit einem "Rollbraten" verglichen. Manch einer soll beim Truppenarzt so lange über Kopfschmerzen aufgrund des eng sitzenden Netzes klagen, bis er sich per Sondererlaubnis ein Haarnetz seiner Wahl im Fachhandel besorgen darf.

Gut ein Jahr später ist es mit der großen Frisuren-Freiheit ohnehin schon wieder vorbei. Im Mai 1972 zieht Verteidigungsminister Schmidt die Regelung zurück. Die Begründung ist medizinischer Art: "Das Haarnetz hat infolge mangelnder Belüftung die bei langen Haaren festzustellende Verfettung und Verschmutzung noch verstärkt", heißt es in der Erklärung des Ministeriums. "Außerdem wurden Erkältungskrankheiten, Hauterkrankungen sowie Parasitenbefall dadurch begünstigt." Ab sofort gilt wieder: Ohren und Uniformkragen müssen haarfrei bleiben. Ein Schock für jene jungen Soldaten mit hingebungsvoll gepflegter Mähne - was soll nur aus den Flirts am Wochenende werden? "Man ist gezeichnet", sagt ein Soldat der Frankfurter Rundschau, "die Chancen fallen."

Der neue Haarerlass von 1972 gilt im Grundsatz bis heute. Daran konnte weder ein Liberalisierungsantrag der Grünen Ende der achtziger Jahre noch die erfolgreiche Klage eines einzelnen Pferdeschwanz-Trägers 2005 etwas ändern. Heute darf das Soldatenhaar weder Augen noch Ohren, noch Hemd- oder Uniformkragen bedecken. Die aktuelle Version der Zentralen Dienstvorschrift erlaubt sogar "modische Frisuren" - allerdings nur, solange sie "in Farbe, Schnitt und Form" nicht "besonders auffällig" sind.

Ausgenommen von dieser Regelung sind Soldatinnen - und Reservisten. Sie dürfen, ob Mann, ob Frau, nach wie vor auch mit (gepflegter) Mähne Dienst tun. Vorausgesetzt, sie sind im Zweifelsfall zum Tragen eines Haarnetzes bereit.

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