Großbritannien:Der Brexit spaltet die Parteien

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"Hier sprechen die Menschen - hört das Parlament zu?" Plakate warnen in Großbritannien vor einem harten, wirtschaftlich gefährlichen Austritt aus der EU. (Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP)

Früher teilten sich die Briten in zwei Lager: Tories und Labour. Heute streiten EU-Befürworter und -Gegner innerhalb beider Parteien. Regierungschefin Theresa May muss endlich handeln.

Kommentar von Cathrin Kahlweit, London, London

Großbritannien hat, anders als Deutschland, ein Mehrheitswahlrecht, was bedeutet, dass die einfache Mehrheit reicht, um einen der 650 Wahlkreise zu gewinnen. Die Briten sind zu Recht stolz auf ihre historisch gewachsene, stabile Demokratie, die sie unter anderem diesem Wahlrecht verdanken. Zwar erringen auch Nationalisten, Liberale oder Grüne Sitze im Unterhaus; zwar gibt es, sehr selten, auch Koalitionen; zwar sitzen Vertreter der walisischen, nordirischen und schottischen Parteien im Parlament. Aber im Großen und Ganzen ist das Land seit jeher dominiert von zwei starken Lagern, Tories und Labour.

Was aber, wenn die Lager keine Lager mehr sind? Schon das Brexit-Referendum war eine Art systemische Anomalie, weil alle Bürger, parteiübergreifend, über eine Frage abstimmten, deren Details sie nicht kannten und deren Folgen sie schwer abschätzen konnten. Die Entscheidung hieß schlicht: drinbleiben in der EU - oder aussteigen. Ja- und Neinsager kamen aus allen Schichten, allen Alters- und Einkommensgruppen, allen Regionen. Anstelle traditioneller Blöcke gab es gespaltene Familien, zerstrittene Freundeskreise.

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Von Cathrin Kahlweit

Das ist so geblieben; der Brexit eint frühere politische Gegner und spaltet Fraktionen. Viele Labour-Wähler haben für den Brexit gestimmt. Die Mehrheit der Labour-Abgeordneten im Unterhaus ist aber gegen den Brexit. Labour-Chef Jeremy Corbyn selbst hat sich nie kritisch über den EU-Ausstieg geäußert und sich nur unter dem Druck von Umfragen auf einen sanften Brexit hinbewegt. Bis heute konnte er vom europafreundlichen Teil seiner Partei nicht überzeugt werden, sich für einen Verbleib Großbritanniens in der Zollunion und im Binnenmarkt einzusetzen.

Was genau Theresa May, die Tory-Premierministerin, will, ist unbekannt. Ihre Positionen ändern sich täglich; sie sind dem Druck aus der eigenen Partei geschuldet, nicht dem Wohl des Landes. Und sonst? Eine laute Minderheit in der konservativen Fraktion ist für einen harten Brexit, eine weitere für eine enge Anbindung an die EU, es gibt bei den Tories sogar Abgeordnete, die in der EU bleiben wollen. Das Gleiche gilt für das Kabinett.

In beiden Parteien finden sich EU-freundliche Politiker - und ihre Gegner

Daher schließen sich Politiker aus beiden parteipolitischen Lagern zusammen; sie erarbeiten gemeinsame Papiere, stimmen gemeinsam ab. Erst vergangene Woche hat sich eine EU-freundliche Gruppe um den Schattenwirtschaftsminister von Labour, Chuka Umunna, gebildet, die auch bei den Tories ihre Fans hat. Eine Mehrheit gegen den Brexit aber - die hat die Gruppe nicht. Gleichzeitig sind die Zeitungen voll von Berichten, dass sich eine Hardliner-Truppe bei den Tories rund um Außenminister Boris Johnson formiere, um May zu stürzen - falls diese vorhaben sollte, das Land in einen Kompromiss mit der EU über die Zollunion zu steuern.

Und das alles, während die Uhr tickt. Am Montag war EU-Chefverhandler Michel Barnier in London und richtete aus, was man natürlich auch im Königreich weiß: Brüssel braucht endlich ein konkretes Angebot - sonst ist der Zeitplan Makulatur, und ein Abbruch der Verhandlungen wird wahrscheinlicher. Die EU trifft in London auf einen Flickenteppich an Meinungen und Machtzentren. Und auf eine Premierministerin, die nicht regiert. Aber nichts kann vorangehen, solange May nicht vor dem ganzen Land zumindest für diese Wahrheit einsteht: dass Großbritannien für seine Souveränität in jedem Fall einen Preis zahlen muss.

© SZ vom 06.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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