Flüchtlingspolitik:Linke, runter von der Wohlfühlinsel

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Linken-Fraktionschefin Wagenknecht und Ex-Parteichef Lafontaine bei einem gemeinsamen Auftritt, 2012. (Foto: dpa)

Die vielen Flüchtenden bringen Linke in ein Dilemma. Ist es noch links, wie Lafontaine eine Obergrenze zu fordern? Oder ist es einfach realistisch?

Kommentar von Thorsten Denkler, Berlin

Oskar Lafontaine ist ein Linker. Oder? Sahra Wagenknecht ist eine Linke. Oder?

Bisher waren das Gewissheiten. Sie gehören beide der Partei "Die Linke" an. Lafontaine war mal ihr Parteichef. Wagenknecht ist jetzt Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag. Von beiden wird behauptet, am ganz linken Rand der Linken zu stehen.

Aber was ist links? Mit den Flüchtenden hat diese Debatte eine neue Note bekommen. Lafontaine fordert Obergrenzen für die Zahl der herkommenden Flüchtenden. Im Spiegel erklärt er jetzt, eine Partei, "die ernst genommen werden will", könne nicht sagen: Für die Aufnahme von Flüchtlingen dürfe es keine Obergrenzen geben.

Wagenknecht erklärte nach den Übergriffen von Köln: "Wer sein Gastrecht missbraucht, der hat sein Gastrecht eben auch verwirkt." Und: Es würde das Land "zerreißen", wenn weiter Millionen Flüchtlinge kämen. Es gäbe Kapazitätsgrenzen. "Wer das leugnet, ist doch weltfremd." Das hätte ein AfD-Politiker nicht schöner sagen können.

Es ist leicht, als Linker da jetzt aufzustehen und sich zu empören. Menschen auf der Flucht vor Krieg zu helfen, ist unter Linken eine moralische Grundüberzeugung. Sie ist in vielen linken Köpfen stärker noch verankert, als das Prinzip der Nächstenliebe in manchem Christenmenschen. Die Sache mit dem Nächsten wird da meist sehr konkret ausgelegt. Der Nächste ist nicht der Fremde, der Andersartige. Sondern der Gleiche.

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Die Linke hat in ihren Beschlüssen diese Frage in schlichter Klarheit beantwortet: "Schutzsuchende dürfen nicht abgewiesen werden. Wir fordern offene Grenzen für alle Menschen." So steht es im Grundsatzprogramm der Linken.

Vielen Deutschen geht es jetzt besser

Die Grenzen waren offen. Hunderttausende Menschen sind seitdem gekommen, haben ihre Chance auf ein besseres Leben ohne Bomben und Todesangst wahrgenommen.

Wer darin nur Massen sieht, oder Ströme und Wellen von Menschen , dem hat ausgerechnet Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Dezember entgegengehalten, dass da einzelne Menschen kommen. Jeder mit einem eigenen Schicksal und einer eigenen Geschichte . Das ist eine christliche Haltung. Aber eben auch eine zutiefst linke. Merkel spricht in dieser Sache linker als Wagenknecht und Lafontaine.

Jetzt kommen kaum noch Flüchtende. Das ist nicht das Ergebnis deutscher Politik. Sondern dem Alleingang einiger Balkanstaaten geschuldet. Ihre Führer haben Mazedonien dazu gebracht, die Grenze zu Griechenland dicht zu machen. Die Flüchtenden stranden seitdem in Zelt-Lagern auf der griechischen Seite.

Ob es ihnen dort besser geht als in deutschen Turnhallen, darf bezweifelt werden. Aber vielen Deutschen geht es besser damit. Auch linken. Sie müssen sich eingestehen: Das Ende des Zuzugs hat ein paar sehr handfeste Vorteile.

Die Debatte um Obergrenzen ist faktisch beendet. In den Notunterkünften im ganzen Land kann Ruhe einkehren, weil nicht jede Nacht Feldbetten aufgebaut, Essensausgaben organisiert und Kleiderkammern gefüllt werden müssen.

Manche Verwaltung kann jetzt melden, dass sie ihre Halden mit unbearbeiteten Asylanträgen abgearbeitet hat. Turnhallen können wieder freigegeben werden, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Die eingeführten Grenzkontrollen werden überflüssig, die Zollbeamten können wieder zurück in ihre vorherigen Dienststellen.

Der ganz große Druck ist raus. Das wird auch gegen die AfD helfen, die damit zunehmend ihr Kernthema Ausländerfeindlichkeit verliert.

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Deutschland, so fühlt es sich an, hat gerade einen nationalen Belastungstest bestanden. Einen Stresstest, wie Banker sagen würden. Millionen freiwilliger Helfer haben daran mitgewirkt. Und helfen noch. Die Hilfe ist heute koordinierter als noch vor wenigen Monaten. Da hatten nur wenige einen Plan. Alles erinnerte eher an ein kreatives Chaos. Bis hierher lässt sich sagen: Deutschland hat es geschafft.

Das lässt dennoch Raum für linke Selbstzweifel. Die Aufgabe ist ja nicht erledigt. Und wenn die Balkanroute wieder offen sein sollte oder die Flüchtenden sich andere, wohl auch gefährlichere Wege nach Europa suchen, dann ist die Verschnaufpause vorbei.

In der linken tageszeitung schrieb kürzlich Ulrich Schulte sein "Geständnis eines Linken" auf. "Willst du offene Grenzen?", fragt er sich da. "Möchtest du, dass noch viele Millionen Flüchtlinge kommen? All die Müden, Armen und Heimatlosen, die Ausgebombten und Verzweifelten aus dem Nahen Osten?"

Schulte schreibt: "Es schmerzt, das zuzugeben. Aber die Antwort auf diese Fragen ist: Nein, lieber nicht." Er würde gerne behaupten, dass dieses Land problemlos fünf, zehn oder fünfzehn Millionen Geflüchtete aufnehmen könne. "Aber ich glaube nicht daran." Wegen der aufgeheizten Stimmung im Land. Weil die Hetze schon jetzt "aus allen Ecken" trieft. "Was wäre hier los", fragt Schulte, "wenn es Massenarbeitslosigkeit gäbe - und fünf Millionen Flüchtlinge in den Sozialsystemen? Man will es sich nicht ausmalen".

Deutschland ist nicht objektiv überfordert

Ein interessanter Punkt. Deutschland ist nicht objektiv überfordert. Dafür ist das Land zu reich. Es ist keine Frage des Geldes. Es ist eine Frage der Gesinnung. Schaffen es die Deutschen, Demokraten zu bleiben? Oder driften sie ab, hinein in die braune Brühe des Rechtspopulismus?

Die Frage ist nicht endgültig beantwortet. Die Erfolge der AfD in Wahlen und in den Umfragen sind aber erste Indizien, dass da etwas gewaltig kippen könnte. Kein schlechter Grund, skeptisch zu werden, was die Aufnahmefähigkeit in diesem Land angeht.

Hinzu kommt aber noch eines: Die Linke ist in der Frage der Flüchtlingspolitik erstmals einem echten Realitätscheck unterworfen. Alle, die immer schon für offene Grenzen geworben haben, für maximale Hilfsbereitschaft, hätten nie und nimmer damit gerechnet, dass ihre Forderungen eines Tages von einer CDU-Kanzlerin im Handumdrehen erfüllt werden würden.

Die ideologisch aufgeheizten Debatten über das Asylrecht haben - gemessen an den heutigen Herausforderungen - in der Vergangenheit unter weitaus besseren Umständen stattgefunden. In der Hochphase des Asylstreites zwischen 1990 und 1994 wurden 1,2 Millionen Asylanträge gestellt. Vor allem von Menschen, die aus die Kriegsgebieten im früheren Jugoslawien geflohen sind. Das waren viele Menschen. Aber sie kamen über einen Zeitraum von vier Jahren.

Allein im Jahr 2015 kamen hingegen 1,1 Millionen Flüchtende nach Deutschland. So viele Menschen hat das Land seit dem Ende des zweiten Weltkrieges nicht mehr in so kurzer Zeit versorgen müssen.

Grünen-Wähler haben damit andere Probleme als Anhänger der Linken. Grob vereinfacht gesprochen: Grüne Linke spüren plötzlich, dass die Flüchtenden auch auf ihren durchgentrifizierten Wohlfühlinseln stranden. Für Flüchtlinge sein, ja, das ist schon richtig. Aber Charlotte braucht schon noch den Sportunterricht als Ausgleich. Und wenn der Syrer meiner Frau nicht die Hand gibt, da hört es echt auf.

Für die Klientel der Linkspartei spielen vor allem Ängste und Neid eine Rolle. Dass die Flüchtenden alles kriegen und sie nichts, ist so ein gängiges Vorurteil. Oder dass die Flüchtenden ihnen die Jobs streitig machen könnten. Oder den Wohnraum. Und vieles mehr.

Linke jeder Ausprägung erwischen sich dabei, dass sie doch nicht so frei sind von Eigeninteressen, wie sie es gerne wären. Umverteilung ist nur dann gut, wenn nicht nur der Syrer davon profitiert.

In diese Kerbe schlagen Wagenknecht und Lafontaine. Und auch SPD-Chef Sigmar Gabriel, der jetzt mit der Lebensleistungsrente ein paar Rentnern ein paar Euro mehr geben will. Explizit als Ausgleich dafür, dass jetzt für Flüchtlinge ein paar Milliarden Euro ausgegeben werden müssen.

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Mal den ideologischen Kompass ausschalten

Hier sei nur angemerkt: Selbst wenn die Versorgung und Integration der Flüchtenden mehrere zehn Milliarden Euro kosten sollten, die Deutschen geben für ihren Sozialstaat 850 Milliarden Euro aus. Pro Jahr. Dass die einen nichts bekommen und die anderen alles, ist schlicht nicht wahr.

Also was tun? Was ist noch links in dieser Frage, die das Land über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte begleiten wird?

Vielleicht ist diese Frage gar nicht so wichtig. Vielleicht wäre ein erster Schritt, den ideologischen Kompass auszuschalten. Volker Kauder, Fraktionschef von CDU und CSU im Bundestag, sagt gerne: "Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit." Diese Wirklichkeit sagt: Die Flüchtenden haben den Weg nach Deutschland gefunden. Sie sind da. Das kann eine Riesenchance sein. Für die Menschen, die gekommen sind. Und auch für Deutschland. Aber nur, wenn wir uns und den Menschen diese Chance auch geben.

Das ist nicht rechts. Das ist nicht links. Das ist einfach nur nach vorne.

Kauders Satz vom Betrachten der Wirklichkeit stammt übrigens von Kurt Schumacher. Einem Sozialdemokraten.

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