Europa in der Krise:Was Europas Einheit gefährdet

Enthusiasten schwärmen gerne von der Vielfalt Europas. Doch nun zeigt sich in der Krise, wie sehr der Kontinent in seiner Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auseinanderklafft. Das überfordert die Bürger und kann zerstören, was in Jahrzehnten aufgebaut wurde.

Stefan Kornelius

Tage im September: Als das Bundesverfassungsgericht den Weg für den Euro-Rettungsschirm ESM freigegeben hatte, die Zentralbank unbegrenzte Anleihekäufe in Aussicht stellte und die EU-Kommission ihren Plan für die neue europaweite Bankenaufsicht vorlegte, da frohlockten die krisengeplagten Nationen Europas - endlich eine glückliche Zäsur im Zyklus des Niedergangs.

*** BESTPIX *** Demonstrators Surround The Spanish Congress To Protest Against Spending Cuts And The Government Of Mariano Rajoy

Demonstranten und Polizei bei Protesten in Madrid am 25. September

(Foto: Getty Images)

Das Hochgefühl hielt keine zwei Wochen. Dann marschierten die Wütenden auf den Straßen in Spanien und Griechenland, in Frankfurt balgten sich die Zentralbank-Granden auf offener Bühne, und in Berlin wurden die Fußnoten für den Rettungsplan neu geschrieben. Im Kreislauf der Krise hatten sich Europas Staaten nur in eine neue Umlaufbahn katapultiert.

So funktioniert das nun schon seit zweieinhalb Jahren: Phasen höchster Anspannung werden unterbrochen von Augenblicken der Hoffnung. In den Atempausen wird dann die nächste Etappe vorbereitet. Es geht um Zeitgewinn. Nur eine Gewissheit besteht immer: Diese Krise wird lange dauern, und sie ist stets begleitet von immensen Gefahren.

Es geht um Erspartes, um Extremismus - und um Leib und Leben

Die Lebenssicherheit von Millionen Bürgern steht auf dem Spiel, bei manchen geht es um den bescheidenen Wohlstand, bei anderen um schiere materielle Überlebensfähigkeit, es geht um Erspartes, um politische Radikalisierung, um Extremismus, dumpfe nationale Ressentiments und manchmal gar um Leib und Leben.

Die Deutschen neigen dazu, diese Gefahren für gering zu halten. Das ist nicht verwunderlich in einem Land, das mehrheitlich die Krise nur abstrakt empfinden kann. Hingegen wird etwa in Spanien schlagartig klar, warum Ministerpräsident Mariano Rajoy derart defensiv gegen die Krise kämpft. Spanien ist über Nacht in eine Staatskrise gestürzt.

Die Regierung versucht, die Intervention von außen, die Unterstellung unter die internationale Aufsicht, mit aller Macht zu vermeiden. Sie mutet den Bürgern immense Sparauflagen zu. Und sie erntet von den Regionen in erpresserischer Manier eine Sezessionsdrohung nach der anderen.

Die Staatsschuldenkrise bedroht den Zusammenhalt der spanischen Nation, weil ein Regionalfürst wie Artur Mas in Katalonien seine eigenen Verfehlungen mit einer halbstarken Spaltungspolitik zu verdecken sucht. Die überraschend vorgezogenen Regionalwahlen werden so zum Referendum über die Loslösung Kataloniens von Madrid.

Für das europäische Existenzproblem gibt es keine einheitliche Deutung

Dramen, die dem spanischen ähneln, spielen sich auch an vielen anderen Orten in Europa ab. Die Krise lässt die Akteure in vermeintlich sichere Gefilde flüchten. Katalanen fühlen sich geborgen in ihrer Region, Südtiroler empfinden die Zumutungen der römischen Regierung als Last, in Deutschland fände der Rauswurf der Griechen aus der Euro-Zone die Unterstützung einer Mehrheit. Europas Nationen wachsen nicht zusammen, Europa zerfällt in Zellen des Egoismus.

Für das europäische Existenzproblem gibt es keine einheitliche Deutung. In zweieinhalb Jahren ist es nicht gelungen, die 17 Staaten der Euro-Gruppe zu einer gemeinsamen Analyse der Ursachen der Krise und einer gemeinsamen Strategie zu deren Bekämpfung zu bewegen. Deswegen bekommt die EZB-Entscheidung vom Sommer über den unbegrenzten Ankauf von Staatsanleihen eine besondere Bedeutung.

Die neue Einsamkeit Deutschlands ist messbar

Vor der EZB-Offerte blieb den Krisenstaaten kaum eine andere Option, als der deutschen Rettungslogik zu folgen: harte Einschnitte im Budget, Reformen für mehr Wettbewerbsfähigkeit und Abgabe souveräner Rechte an eine europäische Instanz. Leistung und Gegenleistung, Geld gegen Reformen.

Mit der Draghi-Offerte zur Intervention ist dieser bescheidene Konsens aufgeweicht. Die Deutungshoheit über das Kleingedruckte der fundamentalen EU-Ratsbeschlüsse vom 28. Juni ist voll entbrannt: Wer genau kommt in den Genuss der Gelder für die Bankenrettung? Wie viel Bankenaufsicht braucht es, ehe das Geld fließen darf? Kann die EZB nur intervenieren, wenn ein Krisenland zuvor die harten Auflagen des Rettungsschirms akzeptiert hat? Und was passiert, wenn es plötzlich die Auflagen nicht umsetzt - muss sich die EZB dann wieder aus dem Finanzierungsgeschäft zurückziehen?

Hinter den vielen Fragen verbirgt sich eine große Unwucht. Die EZB hat sich als politischer Spieler in Europa etabliert, sie hat quasi einen neuen Basar geschaffen, auf dem nun fleißig gehandelt wird. Und die Deutschen stellen verwundert fest, dass ihre so scheinbar gefürchtete Macht nicht mehr viel ausrichten kann. Die Verhältnisse haben sich verschoben. Plötzlich spürt der Gläubiger, dass er in Wahrheit Schwächen hat: Der Schuldner hat nicht mehr viel zu verlieren.

Wie naiv wirken nun die Europa-Enthusiasten

Diese neue Einsamkeit Deutschlands ist messbar. Der Bundesbankpräsident hat sich in seinem Widerstand gegen die Draghi-Entscheidung keine Verbündeten geschaffen, der Finanzminister kungelt lediglich mit den Finnen und Niederländern.

Auf der anderen Seite aber stehen die Krisennationen, die sich der stillen Unterstützung Frankreichs sicher wähnen. Dessen Präsident François Hollande bleibt in der Krise eine einzige Enttäuschung. Seine Indifferenz ermöglicht erst, dass sich die Fliehkräfte entwickeln. Sein Reformeifer taugt nicht zum Vorbild.

Wie naiv wirken nun jene Europa-Enthusiasten, die in der Krise den großen Katalysator für eine stärkere Integration sahen, die am liebsten per Volksentscheid nationale Souveränität an einen europäischen Finanzminister oder einen europäischen Sozialstaatskommissar übertragen würden. Niemand stellt freilich die Frage, in welchem Geist diese Integration stattfinden würde.

Entsteht hier ein Gebilde nach deutscher Vorstellung? Wohl nicht

Kann Europa dem deutschen Impuls folgen? Entsteht hier ein Gebilde nach deutscher Vorstellung? Wohl nicht: Hiesige Pläne für eine europäische Finanz- oder Haushaltsordnung wären zumindest derzeit nicht mehrheitsfähig. Europa ist in seiner Mehrheit südlicher, etatistischer, freigiebiger. Deutschland würde sich in so einem Europa ausgenutzt fühlen und selbst anfällig werden für die Heilsversprechungen der Isolationisten und Nationalisten.

Nein, dieses Europa ist in der Krise nicht der Hort der Harmonie. Dieses Europa ist geprägt von sehr unterschiedlichen Mentalitäten. Nun zeigt sich, wie sehr der Kontinent in seiner Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auseinanderklafft.

Die Enthusiasten schwärmen gerne von der Vielfalt Europas. In dieser Vielfalt steckt aber auch eine Gefahr. Europa kann seine Bürger schnell überfordern. Die Staatskunst der europäischen Lenker besteht nun darin, diese Überforderung zu erkennen und zu vermeiden. Die Krisenkräfte sind mächtig, und sie können in Windeseile zerstören, was in Jahrzehnten aufgebaut wurde.

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