Erster Weltkrieg:Aufgewärmte Legenden

Paul von Beneckendorff und von Hindenburg mit Erich Ludendorff, 1917

Ein Duo als deutsche Oberste Heeresleitung 1917: Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg (li.) und General Erich Ludendorff nach der Feier von Hindenburgs 70. Geburtstag in Kreuznach.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

100 Jahre nach dem Ersten Weltkrieg entflammt eine alte Debatte: Wie ungerecht war der Friede, den die Siegermächte den Deutschen überstülpten?

Gastbeitrag von Norbert Frei

Zu den bleibenden Verdiensten von Guido Knopp gehört es, im Laufe seines langen Fernsehschaffens zuerst seine eigene Branche, also die Medien, dann meine, also die Geschichtswissenschaft, und schließlich die ganze Nation auf historische Pünktlichkeit dressiert zu haben.

Inzwischen weiß jedes Kind, das in Deutschland aufwächst: Geschichte ist, wenn "runde" Jahreszahlen zu feiern oder zu beklagen sind. Das muss man, zumal zu Jahresanfang, als Auftrag und Verpflichtung nehmen - allem womöglich noch nachwirkenden Reformationsfeierblues zum Trotz.

Broterfinder Adenauer

Zwar wird 2018 nicht schon wieder eines Ereignisses zu gedenken sein, von dem uns gleich ein halbes Millennium trennt. Doch auch dieses Jahr sind unserer Erinnerungsfantasie kaum Grenzen gesetzt. Das erste große Werk zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges vor 400 Jahren ist bereits erschienen, weitere werden in diesem Frühjahr folgen.

Am 5. Mai steht der 200. Geburtstag von Karl Marx im Kalender, zwei Wochen vorher schon der 100. Todestag Manfred von Richthofens, dessen nach vielen siegreichen Luftkämpfen wohl auch erschöpftes Talent als "Roter Baron" auf das sich anbahnende Ende des Ersten Weltkriegs verweist.

In diesem Zusammenhang können wir uns, über den "Steckrübenwinter" 1916/17 hinaus, die anhaltende Hungersnot an der damaligen Heimatfront ins Gedächtnis rufen.

Sie veranlasste den großen Erfinder Konrad Adenauer, dem 1915 bereits die Kreation eines "dem rheinischen Schwarzbrot ähnelnden Schrotbrots" gelungen war, ein "Verfahren zur Geschmacksverbesserung eiweißreicher und fetthaltiger Pflanzenmehle und zur Herstellung von Wurst" zu ertüfteln, dessen britisches Patent im kommenden Sommer zum hundertsten Mal zu feiern sein wird - angesichts der wachsenden Veganerschar womöglich sogar unter größerem Beifall als seinerzeit.

Neben dem Krieg und wichtigen Alltagsdingen wird unsere boomende Gedenkindustrie auch in diesem Jahr Kunst und Kultur nicht vergessen, zumal da einige ihrer damals besonders skandalumwitterten (und heute mancherorts erneut mit Prüderie betrachteten) Protagonisten aufzurufen sind: Vor einhundert Jahren erlag in München Frank Wedekind den Folgen einer Blinddarmoperation, und in Wien starben Gustav Klimt und Egon Schiele, letzterer - wie weltweit mindestens 25 Millionen Menschen - an der Spanischen Grippe, die die kriegsgeschwächte Kapitale der Donaumonarchie im Frühherbst 1918 erreichte.

Apropos Monarchie, und damit wird das Gedenken politisch: In Berlin markierte die doppelte Ausrufung der Republik am 9. November 1918 - kurz nach zwei Uhr nachmittags als "deutsche Republik" durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann, zwei Stunden später als "freie sozialistische Republik" durch den Ex-Sozialdemokraten Karl Liebknecht - nicht nur das schmähliche Ende des Kaiserreichs, sondern zugleich die schwierigen Startbedingungen unserer ersten Demokratie.

Es bleibt abzuwarten, wie gut es Historikern und Medien in den kommenden Monaten gelingen wird, diese komplizierte Gemengelage und ihre Folgen einem breiteren Publikum verständlich zu machen: als eine nur vermeintlich weit entrückte Vergangenheit, in der mit dem Untergang des alten Europa das Zeitalter der Demokratie scheinbar unwiderruflich angebrochen war.

Das überraschend große Interesse, mit dem das deutsche Lesepublikum (das, anders als das britische und französische, bei diesem Thema traditionell eher zurückhaltend ist) 2013/14 auf die vielen dicken Bücher über den Beginn des Ersten Weltkriegs reagierte, hat die Verlagswelt - weniger überraschend - dazu animiert, sich für 2018/19 rechtzeitig in Stellung zu bringen.

"Gut und Böse waren nicht so eindeutig verteilt, wie es heute scheint", wirbt ein Verlag

Deshalb sitzen in etlichen Universitäten und Forschungsinstituten seit geraumer Zeit Historikerinnen und Historiker an einschlägigen neuen Darstellungen, und für das kommende Frühjahr sind bereits die Vorboten einer Publikationswelle angezeigt, die ihren Höhepunkt in den nächsten Herbstprogrammen erreichen dürfte.

Gut möglich, dass wir dann eine Deutungsschlacht erleben, die die Debatte um Christopher Clarks "Schlafwandler" noch übertrifft. Denn dessen damals vielen Deutschen so angenehme Diffusion der Verantwortung für den Kriegsbeginn lässt sich mit Blick auf das Kriegsende noch erweitern: Wenn schon 1914 von einer Haupt- oder gar Alleinschuld des Kaiserreichs keine Rede sein konnte - wie ungerecht war dann der den Deutschen von den Siegermächten 1919 in Versailles oktroyierte Frieden?

Und, vorher noch, hatten die abgehalfterten Herren der Obersten Heeresleitung vielleicht nicht doch ein bisschen recht mit ihrer Dolchstoßlegende?

Nun muss man nicht allzu sehr den Waschzetteln der Verlagsleute glauben, die ungeniert an den Bestseller-Erfolg der "Schlafwandler" anzuknüpfen suchen.

Erster Weltkrieg: Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Norbert Frei ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Jena und leitet das Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Aber wenn eine soeben angekündigte Neuerscheinung darauf abhebt, dass der Ausgang des Krieges 1918 "auf Messers Schneide" gestanden habe und "ein Unentschieden das logische Ergebnis des Ersten Weltkriegs gewesen wäre", dann wird man hellhörig. Und wenn es dann weiter heißt: "Gut und Böse waren nicht so eindeutig verteilt, wie es heute scheint" - dann fragt man sich, wohin die Reise geht.

Und es kommt einem der Text eines renommierten Kollegen vom Sommer vergangenen Jahres in den Sinn, der ausgerechnet im Rahmen einer aufklärerisch gemeinten Zeitungsserie über die Weimarer Demokratie die Auffassung vertrat, deren naive Repräsentanten hätten der Republik mit ihrer eilfertigen Bereitschaft zum Friedensschluss Belastungen aufgebürdet, an denen sie nur scheitern konnte.

Um solch aufgewärmten Legenden entgegenzutreten, muss man kein Apologet des überlebten Arguments vom deutschen Sonderweg sein - oder gar historische Linien nachzeichnen, wie sie während und nach dem Zweiten Weltkrieg in der westlichen Publizistik eine Zeit lang im Schwange waren: von Luther über Bismarck zu Hitler.

Wohl aber gilt es festzuhalten, dass es die antidemokratischen alten Eliten gewesen waren, nicht die Revolutionäre vom November 1918, die das Kaiserreich in den Abgrund des Ersten Weltkriegs gestoßen hatten.

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