Einsatzzeiten der Bundeswehrsoldaten:Aus dem Takt marschiert

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Zwei deutsche Soldaten in Afghanistan: Nach einem Einsatz sollten 20 Monate Regeneration folgen. (Foto: dpa)

4/20 ist das Ziel: Nach maximal vier Monaten im Einsatz sollen Soldaten der Bundeswehr sich 20 Monate regenerieren. Ein Bericht des Verteidigungsministeriums zeigt, dass die Vorgabe oft nicht eingehalten wird. Sieben von zehn Gebirgsjägern sind länger im Einsatz - obwohl gerade sie besonders gefordert werden.

Von Christoph Hickmann, Berlin

Der Verteidigungsminister gab sich optimistisch. "Die Erfolge bei der Umsetzung werden Woche für Woche sichtbarer", sagte Thomas de Maizière (CDU), als er vor einigen Wochen seine Regierungserklärung zur Bundeswehrreform vortrug. Dennoch werde man "an dem einen oder anderen Punkt möglicherweise nachsteuern" müssen. Es klang, als habe er die Punkte schon recht genau im Blick - und sollte es nicht so sein, dürften sie ihm am Donnerstag nochmals klar geworden sein. Da besuchte er die Truppe in Afghanistan.

Eines der zentralen Ziele der Reform, offiziell als Neuausrichtung bezeichnet, ist es, die "Einsatzorientierung" der Bundeswehr sicherzustellen. In den Leitlinien zur Neuausrichtung ist als Ziel festgelegt, dass Soldaten nur vier Monate am Stück im Einsatz sein sollen, woran sich eine Phase von 20 Monaten Regeneration anschließen soll - die sogenannte Einsatzsystematik 4/20. Doch die Wirklichkeit sieht oft anders aus.

Das geht aus einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Anfrage der Grünen-Bundestagsfraktion hervor, die der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Demnach wurden von Januar 2010 bis Anfang Dezember 2012 beide Vorgaben in einer hohen Zahl von Fällen nicht erreicht: In einem Viertel der Fälle dauerte der Einsatz länger als vier Monate. Und bei den Soldaten, die nach einem ersten Einsatz von mindestens vier Monaten nochmals in den Einsatz gingen, wurde dazwischen nur in der Hälfte der Fälle (50,7 Prozent) die Regenerationszeit von 20 Monaten eingehalten.

Die Zahlen haben nicht nur Aussage-, sondern auch Sprengkraft

Die vier Monate im Einsatz gelten zwar als generelle Zielvorgabe, doch es gibt Ausnahmen. Zum einen gibt es Dienstposten etwa in multinationalen Hauptquartieren, die stets für sechs Monate besetzt werden. Zum anderen existiert in der Bundeswehr die Praxis des Splittings, bei der sich beispielsweise zwei Soldaten einen Einsatz von sechs Monaten so aufteilen, dass jeder nur drei Monate leisten muss. In solchen Fällen sind 20 Monate Regeneration "weder vorgesehen noch möglich", wie es in der Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey (CDU) auf die Anfrage des Grünen-Verteidigungsexperten Omid Nouripour heißt.

Trotz solcher Ausnahmen haben die Zahlen nicht nur Aussage-, sondern auch eine gewisse Sprengkraft - vor allem, wenn man sich die Einzelauswertung ansieht. Besonders beansprucht sind demnach die Gebirgsjäger: Bei ihnen wurde in knapp 70 Prozent der Fälle die Einsatzzeit von vier Monaten überschritten. Bei der Regeneration fällt das Bild noch drastischer aus: In mehr als drei Viertel der Fälle war sie für die Gebirgsjäger kürzer als die angestrebten 20 Monate. Dazu muss man wissen, dass die Gebirgsjäger in Afghanistan gerade im Zeitraum der Erhebung nicht zu denjenigen gehörten, die vor allem im Feldlager blieben - sondern häufig draußen operierten, also das stellten, was man gemeinhin unter Kampftruppe versteht.

Das Ministerium betont zwar, bei diesen Detailzahlen handele es sich nur um "Trendaussagen" - doch der Trend ist ziemlich eindeutig, auch bei der Feldnachrichtentruppe. Hier wurden die vorgesehenen vier Monate in knapp 38 Prozent der Fälle überschritten. Der Befund deckt sich mit internen Bundeswehr-Planungen, nach denen im Erhebungszeitraum eigentlich 156 Offiziersposten für die Feldnachrichtenkräfte notwendig gewesen wären. Allerdings waren Ende vergangenen Jahres lediglich 108 Dienstposten besetzt, und nur 86 Offiziere standen überhaupt für Einsätze zur Verfügung. Eigentlich sollten nur zwei Züge gleichzeitig im Einsatz sein, doch zuletzt waren es permanent drei.

Bei der Luftwaffe sieht es deutlich besser aus

Generell ist die Situation beim Heer besonders angespannt. Hier wurden die vier Monate nur in 61,2 Prozent der Fälle eingehalten, während es bei der Luftwaffe deutlich besser aussieht. Dort ist auch das Splitting besser anwendbar. Bei der Marine wurde die Einsatzzeit ebenfalls größtenteils eingehalten - wobei das Ministerium darauf hinweist, dass "die Transitzeiten in die Einsatzgebiete und zurück zum Heimathafen" nicht erfasst würden, sodass die Dauer der tatsächlichen Abwesenheit "erheblich höher ausfallen dürfte".

Was das Heer angeht, hatte dessen Inspekteur Bruno Kasdorf in einer Ansprache Ende vergangenen Jahres einen "kurzen Zeitsprung in das Jahr 2017" gewagt und seine Vision von den zu erwartenden Zuständen so geschildert: "Personalvakanzen sind minimal, und die Durchhaltefähigkeit unserer Kräfte erlaubt uns die Realisierung eines Einsatzrhythmus von 4/20."

Bis dahin ist offenbar noch viel zu tun, dementsprechend fallen die Reaktionen auf die neuen Zahlen aus. "Theorie und Praxis der Einsatzsystematik liegen zu Lasten der Soldatinnen und Soldaten weit auseinander", sagt der Grünen-Abgeordnete Nouripour. "Dabei ist längst bekannt, dass bei längerer Einsatzdauer die Gefahr psychischer Krankheiten massiv steigt." Sein Fazit: "De Maizières Bundeswehrreform ist auch in puncto Entlastung gescheitert."

Gerade für Spezialisten seien "vielfach die Grenzen der Belastbarkeit erreicht"

Der Wehrbeauftragte Hellmut Königshaus sagt: "Diese Zahlen bestätigen den Befund meines Jahresberichts." Die Erwartung an die Neuausrichtung, "dass die Streitkräfte einsatzfähiger, leistungsstärker und effizienter werden, bestätigt sich leider nicht". Stattdessen gingen nach wie vor "immer wieder dieselben Soldatinnen und Soldaten vielfach länger als vier Monate und mit deutlich zu geringen Regenerationszeiten in die Einsätze". Gerade für Spezialisten seien "vielfach die Grenzen der Belastbarkeit erreicht".

Ähnlich klingt das beim Bundeswehrverband. "Diese Daten decken sich mit unseren Erkenntnissen", sagt der Vorsitzende Oberst Ulrich Kirsch. Die "riesige Belastung" gefährde "gerade jetzt in der Phase des Übergangs das Erreichen der Ziele der Neuausrichtung". Die Bundeswehr sei darüber hinaus "mit den vielen Einsätzen überdehnt".

Staatssekretär Kossendey hingegen betont, die Zahlen belegten, "dass der planerischen Zielvorgabe einer Einsatzdauer von vier Monaten bereits heute überwiegend Rechnung getragen wird". Es sei vorgesehen, zwischen 2014 und 2016 die "Anzahl verfügbarer Kräfte für den Einsatz" zu erhöhen und die "Durchhaltefähigkeit" zu steigern. So werde sich "die Einhaltung der Einsatzsystematik weiter verbessern". Bis dahin könne es "in einzelnen Bereichen" zu "Abweichungen vom Einsatzrhythmus" kommen. Es gebe aber keinen Grund, die zeitlichen Zielvorgaben zu verändern.

Bei den Militärmusikern des Heeres dürfte man das ähnlich sehen, sie blieben zu 100 Prozent unter vier Monaten. Allerdings gab es bei ihnen im Erhebungszeitraum auch nur 14 Fälle von Soldaten im Einsatz.

© SZ vom 21.06.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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