Deutsche Kritik an Merkels Europapolitik:Einzelkämpfer gegen den Kurs der Kanzlerin

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Geht es um Außen- und Europapolitik, so herrscht in Deutschland eine erstaunliche Einigkeit. Ausländische Beobachter wundern sich, wieso der Euro-Kurs von Kanzlerin Merkel hierzulande mehr oder weniger kritiklos gebilligt wird. Dabei gibt es sie, die Skeptiker. Die SZ porträtiert drei Denker und ihre Thesen.

Von Thomas Kirchner

In Sachen Außen- und vor allem Europapolitik ist Deutschland geistiges Flachland und Monokultur. Darin sind sich die meisten ausländischen Beobachter einig. "Es ist überraschend, dass es weder unterschiedliche Ansichten noch Tiefe gibt in der deutschen Debatte über die Euro-Krise", sagt Sony Kapoor, der Chef des Londoner Thinktank Re-Define.

Und es stimmt: In der deutschen Öffentlichkeit wird der Euro-Kurs von Kanzlerin Angela Merkel mehr oder weniger kritiklos gebilligt. Die Zustimmungsraten für sie sind hoch; die Deutschen glaubten, so der Economist, Merkel habe sie "vor dem Durcheinander ringsumher bewahrt". Weder von den deutschen Leitmedien noch von der Opposition erfährt Merkel stärkeren Gegenwind. SPD und Grüne, die beiden wichtigsten Oppositionsparteien, stellen ihren Kurs nicht grundsätzlich in Frage. Sie fordern Korrekturen, haben die Regierung aber in wesentlichen Fragen der Euro-Rettung gestützt.

Doch natürlich gibt es sie, die Kritiker: Wissenschaftler oder Publizisten, die früh ihre Bedenken über die Krisenpolitik äußerten, die den Sparkurs und die "Regelfixiertheit" der Deutschen geißelten, ihre Inflationsangst für übertrieben hielten, mehr Solidarität mit den Krisenländern forderten, vor einem Zerbrechen Europas warnten.

Drei von ihnen sollen hier vorgestellt werden. Sie haben nichts gemeinsam außer dem Gefühl, auf der anderen Seite zu stehen.

Fritz W. Scharpf, ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Köln.

Scharpf gehört zu den Denkern, die manche in der SPD gerade ins Grübeln bringen: War die Euro-Treue zu Merkel wirklich so alternativlos, hätte man nicht aggressiver gegensteuern müssen? Während Wolfgang Streeck, sein Nachfolger in Köln ("Geklaute Zeit"), den Euro als Krönung des neoliberalen Projekts eines "Konsolidierungsstaats" begreift, führt Scharpf vor allem makroökonomische Argumente ins Feld. Seine These, grob: Der Euro treibt die Völker Europas auseinander, weil er sie in ein Korsett spannt, in dem manche Staaten ersticken müssen. Das Beste für den Kontinent, weil am wenigstens Konfliktträchtige, wäre daher eine Rückkehr zum System flexibler Wechselkurse. Seine Devise: Rettet Europa vor dem Euro!

Das meint Scharpf nicht erst seit gestern. Es ist erstaunlich zu lesen, was er im Dezember 1986 in der Zeit schrieb. "Ein Sprengsatz für die Gemeinschaft. Plädoyer gegen eine Europäische Wirtschafts- und Währungsunion" heißt der Text, in dem der Politologe vor dem Euro warnte, der damals noch lange nicht beschlossen war. In einer Währungsunion sei zwar die Geldpolitik vereinheitlicht. Um zwischen den heterogenen Volkswirtschaften aber einen Ausgleich zu schaffen, müsse auch die Finanzpolitik europäisiert werden. Damit sei jedoch nicht zu rechnen. Die Folge: noch mehr wirtschaftliche Ungleichgewichte. "Begünstigt wäre in erster Linie die in Europa ohnehin besonders wettbewerbsfähige Bundesrepublik; benachteiligt wären ... vor allem die (damals) neuen Mitgliedsländer der Gemeinschaft", also die Südländer. Eine solche Entwicklung müsse, so Scharpf weiter, "als Ergebnis eines zielstrebigen deutschen Wirtschafts-Imperialismus erscheinen".

So ist es gekommen. Das Deprimierende an seiner Analyse: Es gibt keinen guten Ausweg aus der "Euro-Falle". Die massiven Transfers in die Sozialsysteme der Krisenländer, die nach Scharpfs Ansicht nötig wären, um das Schlimmste dort zu verhindern, seien politisch genauso wenig zu verkaufen wie ein Ende der Währungsunion. "Merkels Politik entspricht ziemlich genau den dominanten Interessen der Deutschen. Es erscheint sehr plausibel zu sagen: Die anderen haben Fehler gemacht, wir alles richtig, also bleiben wir bei unserem Kurs und die anderen müssen sich ändern."

Die Opposition könne keine echte Gegenposition aufbauen. Denn dann müsste sie entweder den Euro-Ausstieg oder die große Umverteilung wie bei der deutschen Wiedervereinigung fordern. "Ich habe darüber mit SPD-Chef Sigmar Gabriel gesprochen", sagt Scharpf. "Meine Analyse hat ihn überzeugt. Er sagte dann: ,Aber wie soll ich damit Wahlkampf führen?'" Gar keine Alternative sei die Euro-Ausstiegspartei AFD. "Die sorgt sich nur um das deutsche Geld, ich sorge mich um die Krisenländer."

Immerhin: Tiefschwarz sieht Scharpf die Zukunft nicht. "Die rigorose interne Abwertungspolitik in den Südländern wird Fortschritte bewirken. Nach der deutschen Wahl wird es auch mehr Transfers geben. Also wird man sich durch das nächste Jahrzehnt wursteln. Die Welt wird weiter bestehen."

Guérot ist - trotz allem - überzeugte Europäerin, zumindest sieht sie in einem wirklich vereinigten Europa die Lösung für die meisten Probleme. Wie Jürgen Habermas dachte sie, die Krise könne, ja müsse ein Vehikel sein, um Europa voranzubringen, eine Union entstehen zu lassen, die eine Art Regierung in Brüssel hat, einen Haushalt, eine Bankenunion, eine Einlagensicherung, eine gemeinsame Außenpolitik, "meinetwegen auch gemeinsame Atomwaffen". Nichts dergleichen ist geschehen, im Gegenteil, eine Renationalisierung der europäischen Politik greift um sich, und wenn Angela Merkel "mehr Europa" fordert, dann denkt sie, ganz anders als Guérot, an eine engere Zusammenarbeit der Regierungen. Zu spät, zu zögerlich, zu wenig mutig: Guérot hat die deutsche Euro-Rettungspolitik von Beginn an kritisiert, auch und gerade weil in Wissenschaft und Publizistik die gegenteilige Meinung dominierte. Von einem "Bunker-Gefühl" sprach sie damals.

Aber dann gab es diesen Punkt, an dem sie glaubte, hoffen zu können. Das war die Zeit, als Leute wie Habermas, Wolfgang Schäuble oder Jean-Claude Trichet, Mario Draghis Vorgänger an der Spitze der Europäischen Zentralbank, noch Visionen verbreiteten und sich für ein einiges, wahrhaft soziales Europa oder mindestens einen europäischen Finanzminister einsetzten. Guérots Blog-Einträge auf der Website des ECFR wurden feuriger. Zum Beispiel jener vom Januar 2012, als sie den Wandel förmlich greifen zu können glaubte, als sie eine Europäische Republik heraufziehen sah, eine pan-europäische Demokratie.

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Eineinhalb Jahre später hat sie die Hoffnung verloren. "Das große Europa, mit allem Drum und Dran, das wird nicht kommen." Stattdessen: Eine Tendenz zur Renationalisierung, zur Drohgebärde Richtung Brüssel. "Alle kuschen vor dem Populismus." Kürzlich fragte sie 15 Persönlichkeiten aus mehreren Ländern nach ihren Wünschen an Berlin: "Die Botschaft lautete unisono: Es liegt an Deutschland, ein echtes Europa entstehen zu lassen." Die Diskrepanz zwischen der Wunschliste, die auf ein starkes, föderalistisches Europa mit einem starken Parlament hinauslief, und dem, was die Merkel-Regierung tatsächlich tue, sei riesig. "Die Devise Berlins lautet: Entweder ein deutsches Europa oder gar kein Europa", sagt sie. Wolfgang Schäuble, den letzten großen Europäer im Kabinett, hält sie noch immer für eine "Lichtfigur". "Aber der ist ausgeschaltet. Entschieden wird in einem ganz engen Kreis um die Kanzlerin, auch das Auswärtige Amt ist völlig draußen."

Europa, das ist ihr Fazit, habe eine "schiefe Ebene der Desintegration" erreicht. "Und wenn man da mal drauf ist, gibt es kein Halten mehr. Dann heißt es irgendwann nur noch: Rette sich, wer kann."

Speck analysiert Außenpolitik, ohne einer Institution anzugehören, weit weg von der Berliner Käseglocke. Ihn stört die "Selbstgefälligkeit" der deutschen Politik. In seinen Augen wird Deutschland der Verantwortung, die es in Europa und der Welt übernehmen müsste, nicht im Mindesten gerecht. Er vermisst eine ernsthafte Debatte über die Rolle des Landes, über eine langfristige Strategie. Weil es aber keine außenpolitische Kultur hierzulande gebe, in der sich eine solche Debatte entwickeln könne, stehe Merkel nicht unter Druck, ihren Kurs zu ändern.

Der sei vorderhand ja erfolgreich. "Ökonomisch läuft es. Wenn Deutschland wirtschaftlich so durchhängen würde wie Frankreich, würden wir hier nach den Ursachen suchen." Stattdessen seien "alle Voraussetzungen für eine Status-Quo-Politik gegeben: Applaus für Merkel im In- und Ausland. Briten und Franzosen schleimen um sie herum, und selbst gegenüber Wladimir Putin tritt Merkel inzwischen auf, als sei sie eine Klasse höher, auf Augenhöhe nur noch mit Amerikanern und Chinesen."

Deutschland sei außenpolitisch "saturiert", sagt Speck. "Wir wollten immer einen Ring von Freunden um uns, und das ist mit der Nato- und EU-Erweiterung erreicht." Die Euro-Rettung sei aus Berliner Sicht offenbar gelaufen. Für Europa gelte: Die EU solle bleiben, aber die deutschen Kreise nicht weiter stören. "Alle Kästchen sind abgehakt", sagt Speck. "Uns geht's gut, und Syrien ist nicht unser Problem." Für die dringend nötige aktivere, mutigere Politik, sei es in Europa oder in den internationalen Krisengebieten, bestehe aus Sicht der Kanzlerin kein Anlass. Das könne sich rächen. "Wenn der Euro scheitert, scheitert auch der gemeinsame Markt, dann ist die gesamte Nachkriegs-Architektur kaputt." Deutschland sei jetzt gefragt, es müsse einen wie auch immer gearteten "bargain" vorschlagen, einen Mechanismus, um den Norden und Süden des Kontinents miteinander zu versöhnen. Statt die Führung zu übernehmen, denke die Bundesregierung aber nur "partikular", an die vermeintlichen eigenen Interessen.

Alle Texte der sechsseitigen Europa-Beilage lesen Sie in der Mittwochs-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung und in der Digitalen Ausgabe. Der Europa-Schwerpunkt ist Teil einer Kooperation mit El País (Madrid),The Guardian (London), Gazeta Wyborcza (Warschau), La Stampa (Turin) und Le Monde (Paris) entstanden ist.

Weitere Texte, die im Rahmen der "Europa"-Kooperation der SZ mit fünf europäischen Zeitungen erschienen sind, finden Sie auf dieser Übersichtseite.

© SZ vom 11.09.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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