Bundestagswahl:Erdoğan stürzt viele Deutsch-Türken in Gewissensnöte

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Der türkische Präsident Erdoğan hat die türkischstämmigen Wähler in Deutschland aufgefordert, bei der Bundestagswahl nicht für Union, SPD oder die Grünen zu stimmen. (Foto: dpa)

Denn die Botschaft aus Ankara an die fast eine Million Wahlberechtigte mit türkischen Wurzeln in Deutschland lautet schlicht: Werdet wieder Fremde, ihr lebt im Feindesland! Das ist dreist und gefährlich.

Kommentar von Christiane Schlötzer

Je weniger Menschen voneinander wissen, desto eher bleiben sie einander fremd; Ängste und Fehlurteile gedeihen gut auf dem Boden der Unkenntnis. Eine Bertelsmann-Studie hat soeben ermittelt, dass sich 96 Prozent der Muslime in Deutschland mit diesem Land verbunden fühlen. Anders gesagt: Sie sind keine Fremden und fühlen sich auch nicht so. Das ist ein überraschend gutes Integrationszeugnis für die deutsche Gesellschaft.

Die Mehrheit der deutschen Muslime hat türkische Wurzeln, und ihre Anhänglichkeit an Deutschland wird gerade auf eine harte Probe gestellt. Diesmal nicht von deutschen Politikern mit unsinnigen Doppelpass-Debatten, sondern vom türkischen Präsidenten, der jenen Deutschen, deren Väter und Großmütter einst aus Kayseri und Konya kamen, vorschreiben will, wem sie bei der Bundestagswahl am 24. September ihre Stimme zu geben haben und wem nicht. Damit mischt sich Recep Tayyip Erdoğan ausgesprochen dreist in den deutschen Wahlkampf ein, was er sich im umgekehrten Fall gewiss äußerst streng verbitten würde.

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Erdoğan stürzt so viele Deutsch-Türken, die sich trotz aller Distanz kulturell der Türkei verbunden fühlen, in Gewissensnöte, wenn er CDU, SPD und Grüne grundsätzlich für unwählbar, ja sie zu Gegnern der Türkei erklärt. Erdoğan versucht aber auch einen neuen Keil des Misstrauens in die gesamte Gesellschaft zu treiben, denn die Botschaft aus Ankara an die fast eine Millionen Wahlberechtigten mit türkischen Wurzeln lautet schlicht: Werdet wieder Fremde, ihr lebt im Feindesland!

Erdoğans Rezept für Machterhalt: immer neue Feinde schaffen

Ist das Verhältnis zwischen Ankara und Berlin nicht schon belastet genug? In der Türkei sitzen noch immer - und auf ungewisse Zeit - deutsche Journalisten quasi als Geiseln im Gefängnis, und in ganz Europa fürchten sich Erdoğan-Gegner nach der vorübergehenden Festnahme des Schriftstellers Doğan Akhanlı in Spanien nun vor türkischen Interpol-Einträgen. Deutschland wiederum droht der Türkei mit wirtschaftlichen Einbußen, solange in Ankara demokratische und diplomatischen Standards nichts mehr gelten.

Leider ist kaum zu erwarten, dass sich der Wind dort so bald dreht. Erdoğans Macht scheint weniger gefestigt zu sein, als der Präsident das selbst gern hätte. Eine neue konservative Partei hat ihre Gründung für Oktober angekündigt, und auf jeden zusätzlichen Sympathie-Punkt, den sich die türkische Opposition derzeit erwirbt, reagiert Erdoğan hypernervös. Das dürfte das Klima eher verschärfen, zumal Erdoğan zum Machterhalt nur noch ein Rezept kennt: neue Feinde schaffen, um sich bei deren Bekämpfung immer wieder als Drachentöter von Ankara zu inszenieren.

Auch deshalb will er die Auslandstürken für sich einspannen und hat dabei bereits die nächsten Wahlen - in der Türkei (!) - im Blick. Allerdings dürfte dies wohl misslingen. Nicht nur weil ganz wenige Türken mit Doppelpass in beiden Ländern wählen dürfen, sondern vor allem weil sich Menschen im Zweifelsfall dort zu Hause fühlen, wo sie weniger Angst haben.

© SZ vom 25.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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