Merkel: Blitzbesuch in Afghanistan:"So etwas kannten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht"

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Die Bundeskanzlerin wollte den deutschen Soldaten am Hindukusch Weihnachtsgrüße überbringen, doch der Besuch wird von einer bitteren Nachricht überschattet: Ein 21-jähriger Hauptgefreiter starb bei einem Unfall. Die Kanzlerin ist betroffen - und spricht vor Hunderten Soldaten von Kämpfen, "wie man sie im Krieg hat."

Mehr als eineinhalb Jahre sind seit ihrem letzten Besuch bei der Truppe in Afghanistan vergangen. Anfang April 2009 war Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Anschluss an den Nato-Gipfel, der gerade eine neue Strategie für den erhofften Sieg über die Taliban beschlossen hatte, an den Hindukusch gereist. Heute ist von einem Sieg über die Aufständischen keine Rede mehr. Kurz vor Weihnachten stattete die Kanzlerin - in Begleitung des Verteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) und des Generalinspekteurs der Deutschen Bundeswehr, Volker Wieker - der Truppe an diesem Samstag in Kundus erneut einen Blitzbesuch ab. Aus Sicherheitsgründen war die Visite zuvor geheim gehalten worden.

Die Kanzlerin bei ihrer Ankunft in Kundus: Angela Merkel wird von Vertretern der deutschen Truppen in Afghanistan in Empfang genommen. Kurz zuvor war ein junger deutscher Soldat in der Provinz Baghlan ums Leben gekommen. (Foto: REUTERS)

Auf der Reise ins Konfliktgebiet ereilte Merkel die Nachricht, dass wieder ein Soldat in Afghanistan ums Leben gekommen ist, diesmal bei einem Unfall. Ein Sprecher des Einsatzführungskommandos in Potsdam sagte, dass "keine Gefechtssituation" vorgelegen habe. Der 21-Jährige wurde nach Bundeswehr-Angaben mit einer Schusswunde schwer verletzt in einem Außenposten nördlich des Feldlagers Pol-i-Khomri in der Provinz Baghlan aufgefunden. Er wurde mit einem Hubschrauber in das Feldlager gebracht, wo der Hauptgefreite bei einer Notoperation starb. Die Untersuchungen zum genauen Hergang des Zwischenfalls seien eingeleitet worden, erklärte das Einsatzführungskommando.

"Ich finde, das sollte man beim Namen nennen"

Es ist der neunte tote Deutsche seit Jahresbeginn. Pol-i-Khomri liegt südlich von Kundus im äußersten Nordosten Afghanistans. Merkel und Guttenberg zeigten sich sichtlich berührt von der tragischen Nachricht. Der Minister sagte: "Gut, dass wir da sind." Merkel sprach im Feldlager anschließend mit Soldaten, die an der Offensive im vergangenen Monat im Unruhedistrikt Char Darah beteiligt waren. In schweren Gefechten, die vier Tage andauerten, waren die Taliban dabei aus dem Süden des Distrikts vertrieben worden. Die Kanzlerin sagte zur Schilderung der Kämpfe: "Das ist etwas, was wir bisher nur aus Kriegsbüchern kannten."

"Wenn man sich mit der Realität unserer Soldaten befasst, ist das eben in der Region Kundus so, dass sie in wirklichen Gefechten stehen - so wie Soldaten das in einem Krieg tun. (...) Ich finde, das sollte man beim Namen nennen."

"Wir haben hier nicht nur kriegsähnliche Zustände, sondern Sie sind in Kämpfe verwickelt, wie man sie im Krieg hat", sagte Merkel vor mehreren hundert Soldaten. "Ich finde, das sollte man beim Namen nennen." Es sei "für uns eine völlig neue Erfahrung. So etwas kannten wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Wir haben uns das von unseren Eltern und Großeltern erzählen lassen." Das sei aber eine andere Situation gewesen, weil Deutschland damals Angreifer war.

Ihr erster Weg im deutschen Feldlager führt die Kanzlerin an den Ehrenhain, an dem sie der Soldaten gedenken will, die am Hindukusch ihr Leben ließen. Der Termin sei für den Nachmittag vorgesehen, so ein Sprecher des Verteidigungsministerium. Bei Merkels Besuch im Frühjahr 2009 hatten die anderen Nationen der Internationalen Schutztruppe Isaf schon seit einiger Zeit damit aufgehört, den Deutschen vorzuhalten, dass sie ihren Dienst nur im vergleichsweise ruhigen Norden versähen. Die Gefechte mit den radikal-islamischen Taliban nahmen auch dort zu, immer mehr Bundeswehr-Soldaten starben. Insgesamt kostete der Einsatz inzwischen 45 von ihnen das Leben.

2009 hatte Merkel ebenfalls das Feldlager der Bundeswehr in Kundus besucht, sie war außerdem zu dem deutschen Stützpunkt in Masar-i-Scharif im Norden des Landes gereist. Sie hatte die Innenstadt von Masar-i-Scharif, ein Krankenhaus und ein Camp der Polizei besichtigt. Das ist heute anders. Schwer gesichert fliegt die 56-jährige CDU-Politikerin bei ihrem dritten Besuch seit 2007 zum Feldlager in Kundus. Ausflüge außerhalb der Campmauern sind diesmal nicht vorgesehen. Die Anschlagsgefahr ist zu hoch.

Acht Soldaten der Bundeswehr wurden 2010 bei Anschlägen und Gefechten getötet - so viele wie in keinem anderen Jahr seit Beginn des Einsatzes. In Deutschland sind die Befürworter dieser Mission, die einst als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 auf die USA begann, längst eine Minderheit. Auch im Bundestag bröckelt die Unterstützung. Die einstige Friedensmission ist längst zum Kampfeinsatz geworden. Immer mehr Abgeordnete von SPD und Grünen, die den Einsatz in ihrer Regierungszeit beschlossen und verlängerten, haben inzwischen schwerste Bedenken. Sie befürchten, dass die Mission in der Katastrophe endet: Nämlich dass die Truppen irgendwann abziehen werden, ohne dass das über seit mehr als drei Jahrzehnten in Krieg und Bürgerkrieg versunkene Land befriedet worden ist.

Abzugsdatum unklar

Der Abzug aber soll jetzt bald beginnen. Das sagt auch die Merkel-Regierung. Während sie in einem sogenannten Fortschrittsbericht, der nach Ansicht der Linken eher die Rückschritte aufzeigt, das Datum offen lässt und einen Rückzug an Bedingungen knüpft, spricht Außenminister Guido Westerwelle (FDP) nun konkret von Ende nächsten Jahres. Dann soll die Zahl der deutschen Soldaten am Hindukusch nach seinen Worten erstmals verringert werden. Isaf-Sprecher Josef Blotz mahnt dagegen, der Abzugsprozess müsse sich nach den Bedingungen in Afghanistan und nicht nach einem theoretischen Zeitplan richten. "Wenn Sie als Feuerwehr einen Brand in einem Hochhaus bekämpfen, dann sagen Sie ja auch nicht, um 19 Uhr ist Feierabend, egal, ob es dann noch brennt", sagt der deutsche General. "Und selbst wenn das Feuer gelöscht ist, dann lassen Sie eine Brandwache da, damit es nicht wieder entflammt."

Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der Merkel bei ihrem Besuch begleitet, sieht das ähnlich. Erst am vergangenen Montag war er zuletzt bei der Truppe in Nordafghanistan, er hatte bei diesem Besuch eindringlich davor gewarnt, sich zu stark auf Abzugsdaten zu fixieren. "Diese Jahreszahlen machen nur Sinn, wenn sie auch verantwortungsvoll unterfüttert werden", sagte er. Die Staats- und Regierungschefs der Nato-Staaten hatten auf ihrem Gipfel im November in Portugal beschlossen, den Kampfeinsatz bis 2014 zu beenden und Soldaten anschließend nur noch zur Ausbildung und Unterstützung der afghanischen Truppen im Land zu halten. Die Übergabe der ersten Provinzen von der Isaf in afghanische Verantwortung soll bis Mitte 2011 geschehen. Ende 2011 soll eine erste Bilanz des Übergabeprozesses gezogen werden bei einer Afghanistan-Konferenz wieder in Deutschland, in Bonn. Dort, wo dann vor zehn Jahren die Entsendung einer internationalen Truppe beschlossen worden war - im Glauben an einen baldigen Sieg über die Taliban und an Frieden in Afghanistan.

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