Berliner Mauer:Zeitenwende Mauerfall

FOTOMONTAGE The Berlin Wall is gone as long as it existed Berliner Mauer Geschichte Bau und F

Heute und gestern an der Mauer: Am Bethaniendamm Ecke Adalbertstraße in Berlin können Radfahrer inzwischen problemlos abbiegen (Fotomontage).

(Foto: imago/Michael Hughes)

Am Montag wird die Berliner Mauer länger verschwunden sein, als sie stand, heute wächst die Sehnsucht nach Grenzen wieder. Doch keine Mauer kann Terror, Globalisierung oder Populismus aufhalten.

Kommentar von Stefan Kornelius

Montag um Mitternacht beginnt ein vermutlich gewöhnlicher Tag in der Geschichtsschreibung, aber ein besonderer Tag für alle, die Geschichte lesen wollen. Dieser Montag kann dabei helfen, die Vergangenheit auf einmalige Weise einzuordnen. Er sortiert das eigene Zeitgefühl und schärft das Gespür für Beständiges und Vergängliches.

Zu dieser Mitternachtsstunde nämlich ergibt sich eine Art Tag-und-Nacht-Gleiche der Geschichte. So wie ein Vollmond gepaart mit einer Mondfinsternis Verzückung und Ehrfurcht auslöst, so eröffnet die historische Konstellation vom 5. Februar einen einmaligen Blick auf die Zeitgeschichte und die großen Schwungräder der Politik.

Am 5. Februar wird die Berliner Mauer länger verschwunden sein, als sie gestanden hat. Die Deutschen und mit ihnen der Rest der Welt werden dann länger ohne das Trennungssymbol der Nachkriegsepoche gelebt haben als mit ihm. 10 315 Tage lang durchzog der Mauer-, Beton- und Stacheldrahtwall die Stadt Berlin, das Land, Europa und damit auch die Welt. Am 9. November fiel die Mauer und mit ihr eine globale Ordnung. Am Montag werden 10 316 Tage seit diesem Augenblick vergangen sein. Die Mauer ist abgetragen und im Museum verschwunden. Nun wird auch die Erinnerung daran immer mehr der Geschichte übergeben.

Die Mehrheit der Deutschen kann an diesem 5. Februar eine ganz persönliche Epochenbilanz ziehen, weil sie die Mauer, ihren Fall und vielleicht gar ihren Bau erlebt hat. Der Rückblick könnte beruhigend wirken in Zeiten, die als unruhig und furchteinflößend empfunden werden. 10 315 Tage - dieser Lebensabschnitt war ungeachtet aller empfundenen Sorgen friedlich und stabil.

Die Mauer war nicht nur ein besonders brutales Trennungswerk, sie war das übermächtige Symbol ihrer Zeit. Die Polarisierung der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg schuf Berlin als Scharnierort. Der erbitterte Wettbewerb um Macht und Einfluss trieb das Jahrhundert der Ideologien in immer neue Extreme.

Die Mauer war das Sinnbild für die Unversöhnlichkeit dieser Welten. Die Sperre sollte die sowjetische Hemisphäre nicht etwa vor dem Angriff des Klassenfeindes schützen, sondern das eigene Volk an der Flucht hindern. 28 Jahre lang bildete die Konstruktion das Korsett für Unterdrückung und Unversöhnlichkeit. Eine lange Zeitspanne, ehe der Freiheitsdrang Kräfte entfesselte, die auch keine Mauer mehr aufhalten konnte.

Mauerfall als Beginn einer Lebensbeschleunigung

Der Blick auf die Mauerzeit ist heute gleich mehrfach faszinierend, weil der Menschheit selten das Glück vergönnt war, einen derart friedlichen Epochenbruch mitzuerleben. Der Blick zurück dient aber auch der Vermessung des eigenen Lebens, er ermöglicht die Gegenüberstellung des Davor und Danach, weil das Leben mit und ohne die Mauer so grundsätzlich unterschiedlich war.

Nicht zufällig fällt in den Zeitraum des Mauerfalls der Beginn der Kommunikationsrevolution, die heute zum wichtigsten Treiber von Geschichte geworden ist. Als westdeutsche Parteihelfer und Journalisten nach dem 9. November 1989 nach Ostberlin gingen, hatten viele von ihnen handtaschengroße Kästen mit Tastatur und Hörer dabei - die ersten Mobiltelefone. Der Mauerfall wird nicht nur von Ostdeutschen als Beginn einer Lebensbeschleunigung erlebt, die bis heute anhält.

Gleichzeitig ist die Mauer auch Gegenstand wehmütiger Erinnerung, ja gar der Verklärung. Das wirkt auf den ersten Blick befremdlich, weil die Teilung der Welt mit Unterdrückung und Brutalität einherging. Aber: Für nicht wenige bieten die 10 315 Tage einen Haltepunkt. Dieser geschlossene Zeitraum war für sie stabil, geradezu eingefroren. Seitdem fordert das Leben sehr viel Veränderung. Kontinuität und Gewissheit sind verschwunden.

Kräfte, die keine Mauer aufhalten kann

Der Blick auf die Mauerzeit ist der Blick auf eine andere, überschaubare Gesellschaftsordnung. Vielleicht erklärt sich auch damit die Verklärung, weil die Parzellierung der Welt, die Einordnung in Systeme und Ideologien eine eigene Sicherheit bot.

Heute beklagen demokratische Gesellschaften den Verlust von Identität, die Suche nach Heimat ist zum Lieblingssport der Parteien geworden. Der Gesellschaft fehlt die gemeinsame Erzählung, der Konsens darüber, was mit ihr geschieht und wo sie hin möchte. Umso stärker der nostalgische Blick, vor allem auch auf die Tage des Mauerfalls, die ein großes Gemeinschaftserlebnis boten.

Der Mauerfall steht am Beginn einer Dynamisierung der Weltpolitik, die bis heute nicht enden will. "Tear down this wall", sagte US-Präsident Ronald Reagan zweieinhalb Jahre vor dem Revolutionsherbst am Brandenburger Tor. Er stand vor der Betonwand, meinte aber die ideologische Mauer, die den Erdball durchzog.

Als die Mauerspechte den Beton klein gebröselt hatten, war auch von der ideologischen Konfrontation wenig übrig geblieben. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama erklärte das Ende der Geschichte, oder besser: den Sieg der liberal-demokratischen Ordnung, die sich als stärkste Kraft bei der Gestaltung der Welt durchsetzen werde.

Geschichte endet nicht

Auch darüber lässt sich heute ein Urteil fällen. Liberale Demokratien stehen unter Druck, neue Ideologien sind entstanden, neuer Fanatismus wurde geboren. Fukuyama hat den Sieg voreilig erklärt.

Geschichte endet selbstverständlich nie. Sie wird stets neu gemacht, und ihre Zutaten sind aufregend überraschend. Die Mauerfall-Dividende hielt jedenfalls nicht lange, aus der unipolaren wurde eine multipolare oder gar eine nonpolare Welt, die sich nun wieder eine neue Ordnung zu geben versucht. Terror, Globalisierung, Digitalisierung, Migration, die autoritäre Versuchung, Populismus. Keine Mauer kann diese Kräfte aufhalten, auch wenn mit jedem neuen Problem die Sehnsucht nach Grenzen und Sperren wächst.

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