Lage in Großbritannien:Organisierte Randale, überforderte Polizei

Krawall mit Ansage: Die dritte Nacht in Folge haben Jugendliche in London Geschäfte geplündert und Häuser angezündet. Die Gewalttäter verabreden sich über verschlüsselte Kurznachrichten, die britische Polizei kommt zu spät und wirkt hilflos. Konservative Politiker fordern nun ein härteres Vorgehen - doch das birgt hohe Risiken.

Markus C. Schulte von Drach

Von Hackney im Osten Londons über Clapham, Croydon, Peckham und Lewisham im Süden, Camden im Norden bis nach Ealing im Westen - die Gewalt, die am Samstagabend im Stadtviertel Tottenham begann, hat sich in drei Tagen auf die gesamte britische Hauptstadt ausgeweitet. In der vergangenen Nacht plünderte ein gewaltbereiter Mob auch in Englands zweitgrößter Stadt Birmingham sowie in Liverpool und Bristol Geschäfte und legte Feuer.

Riots And Looting Continues Across London

Polizeibeamte in Sicherheitsausrüstung stehen in Hackney in der Nähe eines brennenden Autos.

(Foto: Getty Images)

Wie kann es sein, dass die britische Polizei von den Ereignissen dermaßen überfordert ist, dass sie die Geschäfte, Busse und Autos ihrer Bürger nicht schützen kann, ja dass sogar Polizeiwachen und Streifenwagen von den Randalierern zerstört werden?

"Plünderer waren überall, und ich konnte kein einziges Polizeiauto in meiner Straße und in der Nachbarschaft sehen", berichtete ein Augenzeuge aus Tottenham der BBC. "Ich sah Massen von Menschen, die mit Fernsehern, Computern und Laptops meine Straße entlang rannten." Über Stunden konnte der Mob mancherorts offenbar Geschäfte leerräumen. Und dort, wo die Polizisten auftauchten, griffen sie häufig nicht ein und wehrten sich manchmal noch nicht einmal gegen Angriffe der vermummten Jugendlichen, die sogar selbstgebastelte Feuerwerkskörper und Benzinbomben einsetzten.

Die Bobbies "standen einfach nur dort und ließen die Gewalt über sich ergehen", berichtet ein weitere Augenzeuge. Doch so passiv waren die Polizeibeamten nicht überall. Bis Dienstagmittag wurden 450 Randalierer festgenommen. Allerdings kann niemand behaupten, die Sicherheitskräfte hätten die Lage auch nur halbwegs im Griff.

Vom Ausbruch der Gewalt wurde die Polizei am Samstag völlig überrascht - und zwar genauso wie jene, die die Ausschreitungen ungewollt ausgelöst haben. Gemeinsam mit hundert Sympathisanten demonstrierten die Angehörigen und Freunde von Mark Duggan, einem 29-Jährigen, der zwei Tage zuvor von Polizeibeamten erschossen worden war, vor einer Polizeiwache. Sie protestieren dagegen, dass die Behörden sie nicht angemessen informierten. Doch die Polizei ignorierte ihr Anliegen - und das Unheil nahm seinen Lauf.

Technisch nicht auf der Höhe

Unmut breitete sich unter den Demonstranten aus und plötzlich zogen Hunderte Jugendliche durch die Straßen Tottenhams, einem der Problemviertel Londons, in dem es schon lange gärt. Innerhalb kürzester Zeit wurde die friedliche Protestkundgebung von Randalierern, die oft aus anderen Vierteln stammten, überrannt. Brandbomben flogen, Schaufenster wurden zertrümmert, Geschäfte geplündert.

Einige der jugendlichen Krawallmacher sprechen sich offenbar über das verschlüsselte Instant-Messaging-System von Blackberry ab, britische Medien berichten auch von entsprechenen Botschaften auf Twitter und Facebook. Wie bereits im Herbst, als die Studentenproteste gegen Unigebühren eskalierten und es zu Gewaltausbrüchen kam, verfügte die Polizei offenbar nicht über das Know-How, diese Kanäle zu verfolgen und ihre Strategie entsprechend anzupassen.

Erst spät wurden Spezialkräfte nach Tottenham geschickt, die Sperren errichteten und versuchten, die Krawallmacher auseinanderzutreiben. Es habe Stunden gedauert, bis die Polizisten entsprechend ausgerüstet waren, berichtet die britische Zeitung Guardian. Dann gingen die Beamten offenbar nur halbherzig gegen die Randalierer vor - mit dem Ergebnis, dass sich die Plünderungen später in andere Stadtteile Londons und in andere Großstädte ausweiteten.

Die Polizei war von der Geschwindigkeit, mit der sich die Unruhen sich ausbreiteten, überfordert. Aber hätte sie sich spätestens am Sonntagmorgen besser vorbereitet sein müssen? Zusätzliche Beamte wurden in die Hauptstadt geschickt; sie versuchten in Schutzausrüstung, teilweise beritten, mit Hilfe von Hunden und unter dem Einsatz von Schlagstöcken, die Jugendlichen von den Straßen zu vertreiben. Wo dies gelang, verlagerten sich die Plünderungen auf andere Viertel - und die Polizei lief den Randalierern hinterher.

Riskante Härte

Viele konservative Politiker fordern deshalb ein hartes Vorgehen. Doch das birgt weitere Risiken. Denn bei solchen Unruhen habe man es mit ganz unterschiedlichen Menschen zu tun, erklärt der Experte Peter Shirlow von der Queen's University Belfast dem Guardian. Je härter die Polizei gegen die Militanten vorgeht, desto eher werden auch jene mit hineingezogen, die nur Sympathien für die Randalierer haben, sonst aber friedlich geblieben wären. Schon der Einsatz der sogenannten "Stop and Search"-Strategie, bei der die Polizei willkürlich Personen durchsuchen kann, führte zu wütenden Reaktionen und Ausbrüchen von Gewalt.

Lage in Großbritannien: Ein jugendlicher Krawallmacher wird in Camden Town verhaftet.

Ein jugendlicher Krawallmacher wird in Camden Town verhaftet.

(Foto: AP)

Zudem gibt es weitere grundsätzliche Probleme der Sicherheitskräfte mit gewaltbereiten Gruppen. Die Erfahrungen von Spezialkräften der Polizei beschränken sich eher auf den Umgang mit politischen Demonstrationen, auf die man sich meist vorbereiten kann. Hier zeigt die Polizei normalerweise nur Präsenz und schränkt die Bewegungsfreiheit der Demonstranten mit Barrieren ein. Eine bevorzugte Taktik der Londoner Polizei ist laut Guardian-Bericht dann das "Einkesseln" der Protestgruppen.

Das aber ist mit den Gruppen von Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen kaum möglich, die blitzschnell Geschäfte leer räumen, die Polizei ganz gezielt brutal angreifen, Feuer legen und selbst Barrikaden errichten. Zudem ist es gefährlich, wenn Polizeibeamte versuchen, Plünderer und Randalierer festzunehmen. Wenn eine kleine Gruppe von Polizisten versucht, einzelne Personen zu überwältigen, kann die Gewalt eskalieren.

Premierminister David Cameron, der seinen Toskana-Urlaub wegen der Gewalt abbrach, kündigte an, in der kommenden Nacht 16.000 Beamte patrouillieren zu lassen. Während manche Regierungspolitiker nichts Besseres wissen, als jetzt nach hartem Durchgreifen der Polizei zu rufen, machen andere den Umgang der konservativ-liberalen Koalition mit den Randgruppen der Gesellschaft für die Ausschreitungen mitverantwortlich.

Manche Kritiker fordern nun Veränderungen bei der britischen Polizei. Schließlich ist es nicht das erste Mal, dass die Sicherheitskräfte Unruhen nicht in den Griff bekommen und schwerwiegende Fehler machen. Viele Menschen erinnern sich noch an die Ausschreitungen 1985 ebenfalls in Tottenham, bei denen der Mob einen Polizisten lynchte.

Mehrere Pannen in der jüngsten Vergangenheit

Im November vergangenen Jahres kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen während einer Studentendemonstration in Londons Regierungsviertel, die die Polizei nicht verhindern konnte. Und am 26. März waren mehrere Hundertausend Demonstranten nach London gekommen, um gegen den Sparkurs zu protestieren. Auch hier kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und einigen Demonstranten. In die Kritik geriet die Londoner Polizei bereits 2005, als Polizisten einen jungen Brasilianer erschossen, den sie mit einem islamistischen Terroristen verwechselt hatten.

Die aktuellen Unruhen hätte die Polizei vielleicht verhindern könnten, wenn man mit den Angehören von Mark Duggan gesprochen hätte. "Kommunikation ist von fundamentaler Bedeutung", betont etwa Michael Rosie von der University of Edinburgh im Guardian.

"Vor einigen Jahren hätte es eine Menge Gespräche gegeben", erklärte David Gilbertson, ein ehemaliger hoher Beamter der Londoner Polizei, der Zeitung. "Wir hätten sichergestellt, dass die Organisatoren einer Protestgruppe in die Polizeiwache gebracht worden wären." Und wenn sich die Gefahr von Unruhen abzeichnet, sei es wichtig, eine Strategie zu entwickeln, die Leben und Eigentum schützt. "Die einfachste Möglichkeit ist es zu verhindern, dass sich Gruppen bilden", so Gilbertson. "Wenn es erstmal dazu gekommen ist, dann muss man sie von Orten wie Einkaufszentren fernhalten, an denen sie Schäden anrichten können."

Leider ist dies der Londoner Polizei am vergangenen Samstag nicht gelungen. Mit den Folgen kämpft sie bis heute.

Linktipp: Der Guardian hält seine Leser in einem Live-Blog auf dem Laufenden.

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