100-Tage-Bilanz:Von wegen Stillstand

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Die Bundesregierung hat einiges umgesetzt, was im Koalitionsvertrag vereinbart wurde. (Foto: dpa)

Die große Koalition streitet zwar gerade vor allem über Flüchtlingspolitik. Trotzdem wurde schon einiges von dem, was sich Union und SPD vorgenommen haben, umgesetzt. Ein Überblick.

Von Markus Balser, Michael Bauchmüller und Cerstin Gammelin, Berlin

Es wird wieder nicht klappen mit dem "100-Tage-Gesetz". Auf der Tagesordnung für das Bundeskabinett ist es für nächste Woche zwar wieder vermerkt. Doch schon jetzt ist klar: Vor Herbst wird das nichts. Das Gesetz, das Feinheiten der Energiewende klären sollte, hängt zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium fest. Am Ende könnte es ein 200-Tage-Gesetz werden. Also Stillstand? Mitnichten. Tatsächlich hat die Koalition in ihren ersten 100 Tagen schon einiges geschafft.

Haushalt und Finanzen

Eine neue Regierung braucht auch einen ordentlichen Haushalt. Binnen sechs Wochen nach Amtsantritt hat das Bundesfinanzministerium den Entwurf für das Budget 2018 vorgelegt, es soll Anfang Juli beschlossen werden. Dann wird auch der Entwurf für 2019 vorgelegt werden. Die Finanzplanung steht bis 2022 in den Grundzügen. Finanzminister Olaf Scholz plant mit ausgeglichen Haushalten ohne zusätzliche Schulden. Scholz hat auch einen Plan für Steuersenkungen vorgelegt. Die Entlastungen gehen allerdings nicht über den gesetzlich vereinbarten Ausgleich der Inflation bzw. der kalten Progression hinaus.

Europa

Die Koalition hat dazu beigetragen, das Kreditprogramm für Griechenland nach acht Jahren planmäßig zu beenden und Athen in die wirtschaftliche Freiheit zu entlassen. Berlin und Frankreich haben sich auf Reformen der Währungsunion verständigt und auf eine abgestimmte Besteuerung von Unternehmen. Weitgehend einig ist man sich, den Euro-Rettungsfonds ESM als allerletztes Sicherheitsnetz bei drohenden Bankenpleiten zu nutzen. Ab 2021 soll es einen Haushalt nur für Euro-Staaten geben, der die Regierungen bei Reformen unterstützt. Die Pläne gehen jetzt in die europäische Abstimmung. Das wird leichter als beim Thema Flüchtlinge.

Arbeit und Soziales

Im zweiten Anlauf hat die große Koalition nun tatsächlich die Einführung der Brückenteilzeit durchgesetzt. Vom 1. Januar an sollen Teilzeitbeschäftigte leichter in Vollzeit zurückkehren können, wenn ihr Betrieb mehr als 45 Beschäftigte hat. Das Kabinett hat den Entwurf beschlossen. Ebenfalls zum 1. Januar soll ein "Sofortprogramm" anlaufen, um den Notstand in der Altenpflege zu lindern - unter anderem durch 13 000 neue Stellen. Parallel soll der Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,3 Prozent angehoben werden.

Verbraucherschutz

Rechtzeitig für die Besitzer manipulierter Dieselmotoren hat die Koalition die Musterfeststellungsklage auf den Weg gebracht. Damit können Verbraucher sich der Klage anerkannter Verbraucherverbände anschließen und so ihr Recht leichter durchsetzen. Am 1. November soll das Gesetz in Kraft treten - ehe die Ansprüche verjähren.

Wirtschaft und Verkehr

Das drängendste Problem steht in keinem Koalitionsvertrag: der Handelskonflikt mit den USA. Kein anderes Thema hat das Bundeswirtschaftsministerium in den ersten 100 Tagen so beschäftigt wie dieses. Bisher ist es nicht gelungen, die USA von Zöllen auf Stahl- und Aluminiumimporte abzubringen. Hinter den Kulissen gibt es aber noch andere unvorhergesehene Herausforderungen: Etwa das ungebremste Interesse des chinesischen Staatskonzerns SGCC am ostdeutschen Netzbetreiber 50 Hertz. Der Kauf einer ersten Tranche von 20 Prozent ließ sich verhindern, auch durch die Intervention aus Berlin. Jetzt will der australische Pensionsfonds, dem bisher 40 Prozent gehörten, eine zweite Tranche verkaufen. Und wieder laufen fieberhafte Bemühungen, einen anderen Käufer zu finden - nicht aus China. Im Abgas-Skandal geht die neue Bundesregierung mit dem Rückruf von 780 000 Autos des Daimler-Konzerns hart vor. In einem anderen Punkt bleibt das Verkehrsministerium zurückhaltend - und damit auf Linie der Autobranche. Motor-Nachrüstungen wird es wohl nicht geben, Fahrverbote auch nicht. Stattdessen sperren belastete Städte wie Hamburg nun selbst Straßen.

Energie und Klima

Das heikelste Projekt, der planvolle Ausstieg aus der Kohlekraft, ist zumindest auf den Weg gebracht: Kommenden Dienstag tritt erstmals die Kommission zusammen, die Klimaschutz und die Interessen der Beschäftigten halbwegs in Einklang bringen soll - bis Ende des Jahres. Schwieriger ist die Lage beim Ausbau erneuerbarer Energien. Rasch wollte die Koalition dafür neue Windparks ans Netz bringen. Doch jetzt streitet sie, was "rasch" bedeutet und ob das Netz dafür ausreicht - weswegen nun auch das "100-Tage-Gesetz" hängt.

Umwelt und Agrar

Eines der heikelsten Themen der ersten drei Monate betraf die Atomenergie. Ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts ließ noch bis Ende diesen Monats Zeit, die Entschädigung der Atomkonzerne RWE und Vattenfall zu regeln. Das Gesetz dafür ist auf dem Weg: Können die beiden Unternehmen am Ende nicht so viel Atomstrom erzeugen, wie es ihnen der rot-grüne Ausstieg erlaubt hätte, dann muss der Staat sie dafür entschädigen. Das kostet rund eine Milliarde Euro, erspart dem Bund aber weitere Peinlichkeiten.

Bei einem weiteren Streitthema hat die Bundesregierung zwar eine Strategie veröffentlicht, aber nur einen kleinen Teil des Problems gelöst: Die Regierung hat Verbote für das umstrittene Pflanzenschutzmittel Glyphosat für Hobbygärtner und die Anwendung auf öffentlichen Flächen auf den Weg gebracht. Der Verordnungsentwurf reduziert den Einsatz damit allerdings nur um wenige Prozent. Beim Insektenschutz wurden für Bienen gefährliche Stoffe, so- genannte Neonikotinoide verboten. Ein größer angelegtes Programm soll erst im Herbst folgen.

© SZ vom 23.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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