Zuckerkrankheit:Vom Insulin der Insulaner

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Die wahren Ursachen für die weltweite Diabetes-Epidemie sind womöglich auf einem Südsee-Atoll zu finden.

Von Holger Wormer

Am schlimmsten sieht die Sache auf Nauru aus. Die ehemalige deutsche Kolonie gerät vorzugsweise in die Schlagzeilen, wenn es um Vorwahlnummern unseriöser Internet-Anbieter, um Asylbewerber vor Australien oder Folgen des Klimawandels für Inselstaaten geht.

Phosphat machte die Insel Nauru auf eine Schlag reich - und die Bewohner wurden dick. (Foto: Foto: Reuters)

Wenn sich aber 12.000 Diabetes-Experten auf einer Tagung treffen, muss der Pazifik-Staat als Musterbeispiel für die weltweite "Epidemie" der Zuckerkrankheit herhalten: Da werden Schwarzweißbilder schlanker Inselbewohner aus den 30er Jahren mit neuen Farbfotos verglichen, auf denen die dicksten Leute der Welt abgelichtet sind, die zudem zuckerkrank sind.

Diabetes, die neue Geißel?

Der Australier Paul Zimmet unterstreicht das dann mit den Worten: "Was Aids in den letzten 20 Jahren des vorigen Jahrhunderts war, könnte Diabetes in den ersten 20 Jahren des neuen Jahrhunderts sein."

Nun kann man von Inselstaaten wie Nauru tatsächlich viel lernen über das Rätsel Zuckerkrankheit, zu deren Ursachen auch die in München versammelten Experten kaum mehr sagen können als vor Jahren. Für manche stellt sich vor der weiteren Beschäftigung mit Pazifik-Inseln aber die Frage, ob der Vergleich mit einem sich epidemieartig ausbreitenden Virus überhaupt stimmt: "Die Diabetes-Epidemie - Fakt oder Fiktion?", provozierte ein Vortragstitel.

Auf den ersten Blick scheint sich jeder Zweifel zu erübrigen, zu erdrückend sind die ständig zitierten Zahlen: Mehr als sechs Millionen Patienten in Deutschland, mehr als 170 Millionen weltweit. Und diese Zahl, so schätzt man bei der WHO, könnte sich bis zum Jahr 2030 auf gut 350 Millionen verdoppeln.

Doch seit einer Arbeit in der Fachzeitschrift Lancet vor einem Jahr wird der medienwirksame Begriff "Epidemie" vorsichtiger verwendet. Dänische Forscher hatten damals Daten von 470.000 Einwohnern der Insel Fynen ausgewertet. Zwar gab es auch dort am Ende des Untersuchungszeitraums mehr Zuckerkranke. Doch die Zahl der Neuerkrankungen pro Jahr blieb gleich.

Die Patienten schienen aber länger zu leben, und die Krankheit wurde früher erkannt, was die Zahl der neuen Fälle scheinbar erhöht. Ist die weltweite "Epidemie" also womöglich durch solche Faktoren und das Bevölkerungswachstum zu erklären?

Eine andere dänische Forschergruppe um Knut Borch-Johnsen vom industrienahen Steno-Diabetes-Centre hat die These von den "immer mehr" neuen Zuckerkranken nun für vier Regionen geprüft: Finnland, Indien, Samoa und die USA. Demnach lässt sich in Indien tatsächlich fast ein Fünftel des Anstiegs bei den 30- bis 60-Jährigen dadurch erklären, dass die Erkrankung früher diagnostiziert wird.

Was die Zahlen steigen lässt

Auch die wachsende Bevölkerung macht sich bemerkbar. In Finnland und den USA spielten diese Faktoren keine Rolle. Berücksichtigt man aber ältere Bevölkerungsgruppen, vermutet Borch-Johnsen, ließe sich auch dort vielleicht die Hälfte des Anstiegs durch die genannten Gründe erklären. Insgesamt jedoch belege die Studie, dass mehr Menschen neu an Diabetes erkrankten.

Die Frage, was die Zahlen steigen lässt, spielt für die Gesundheitssysteme eine große Rolle. So habe man beim Diabetes mitunter allein auf Vorsorge als auf Versorgung der Kranken gesetzt, sagt Born-Johnsen: "Doch selbst mit der erfolgreichsten Prävention werden wir noch Jahrzehnte lang ein gewaltiges Problem für das Gesundheitssystem haben."

Über welche Zeiträume allein eine lebensverlängernde Therapie die Patientenzahl auf Dauer erhöht, demonstriert Born-Johnsens Kollege Anders Green von der Universität Odense. Am Beispiel des Typ-1-Diabetes rechnet er vor, dass sogar die segensreiche Einführung der Insulin-Therapie in den 20er Jahren bis heute deutlichen Anteil an der wachsenden Zahl von Zuckerkranken hat.

Da man die genauen Ursachen der Zuckerkrankheit nicht kennt, liefern die Berechnungen von Epidemiologen aus aller Welt auch Indizien für diese Frage. Ein Musterbeispiel ist tatsächlich die erwähnte Insel Nauru. Bis in die 20er Jahre war Diabetes dort unbekannt; den ersten Fall diagnostizierten Ärzte 1925. Heute ist, je nach Alter, jeder zweite bis dritte Nauruer zuckerkrank - so häufig wie in keinem anderen Staat.

Die Insel liefert so Belege für eine wichtige Theorie: die der "geizigen Gene".

Demnach hat die Evolution den Menschen mit Erbgut ausgestattet, das es ihm erlaubt, Essen effektiv zu verwerten. In guten Zeiten kann er sich schnell Fettpolster anfuttern, die ihn über die nächste Hungersnot retten.

Bei den Einwohnern von Nauru scheint die Natur diesen Mechanismus perfektioniert zu haben. Da die Insel vorwiegend von Menschen besiedelt wurde, die bei langen Kanufahrten auf See auch Hungerperioden überstanden hatten, kam es wohl schon damals zu einer Selektion: Nur wer Nahrung gut verwertete (und schnell Fett ansetzte), konnte gut überleben.

"Coca-Colonisation"

Auch in der Folge erlebten die Nauruer Hungersnöte - bis sie plötzlich zu den Reichsten der Welt gehörten: Die Entdeckung eines Phosphat-Vorkommens spülte viel Geld auf die Insel, zunächst in den 20er Jahren, vor allem aber nach der Unabhängigkeit 1968. Die genetisch auf karges Leben programmierten Insulaner hatten plötzlich Nahrung im Überfluss. Körperliche Arbeit und Bewegung wurden ein Fremdwort, das Auto Verkehrsmittel Nummer eins. Die Folge: Übergewicht und schließlich Diabetes.

"Coca-Colonisation" nennt Paul Zimmet die Folgen der westlichen Lebensweise. Doch was am Modell Nauru besonders drastisch deutlich wird, ist weltweit zu beobachten - wenngleich nicht ganz so ausgeprägt (wohl wegen schwächeren genetischen Selektion). So kommt eine aktuelle US-Studie an 38.000 Frauen erneut zu dem Schluss, dass Übergewicht einer der wichtigsten Risikofaktoren für Diabetes ist: Fettleibige hatten ein neunfach erhöhtes Diabetes-Risiko, Sport und Bewegung senkten das Risiko dagegen um 9 bis 18 Prozent (JAMA, Bd.292, S.1188, 2004).

Das gilt auch für ärmere Länder, wie eine in München vorgestellte Studie aus Bangladesch bestätigt: Von den reichen Stadtbewohnern Dhakas litten mit über 13 Prozent fast doppelt so viele am Typ-2-Diabetes wie von den Slum-Bewohnern.

Sauberkeitsfimmel als Mitauslöser?

Doch Gene, Überfluss und Übergewicht reichen nicht aus, um die wachsenden Zahlen zu erklären. So beobachten Forscher auch weniger Fälle bei Bewohnern entlegener Regionen als bei Städtern - für manche ein Beleg für Einflüsse der Umweltverschmutzung; für andere ein Hinweis darauf, dass übertriebene Hygiene nicht nur Allergien, sondern auch Diabetes begünstigt.

Dies gilt besonders für den mit 5 bis 10 Prozent Anteil selteneren Typ-1-Diabetes. Bei ihm zerstört das Immunsystem die Insulin-produzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse. Auslöser, so eine Theorie, könnte ein Virus sein. Auch könnte übertriebene Hygiene in der Kindheit dafür sorgen, dass das Immunsystem in keimarmer Umgebung unterbeschäftigt ist und sich dann gegen den eigenen Körper wendet.

Neue Varianten der Theorie besagen, dass zu viel Hygiene die natürliche Bakterienflora bei Kleinkindern so verändert, dass sie anfälliger für Auto-Immunkrankheiten werden.

Beim Typ-2-Diabetes verliert der Körper dagegen die Fähigkeit, das in der Bauchspeicheldrüse produzierte Insulin aufzunehmen; er wird "insulinresistent", der Blutzuckerspiegel steigt. Doch selbst die Unterscheidung zwischen den beiden Grundtypen des Diabetes ist umstritten. So hält der britische Mediziner Terry Wilkin Diabetes Typ-1 und -2 im Prinzip für dieselbe Krankheit.

Demnach beginnt auch Typ-1-Diabetes mit Insulinresistenz. Der Körper reagiere darauf mit aktiveren Inselzellen in der Bauchspeicheldrüse - bis diese so aktiv sind, dass das Immunsystem sie irrtümlich für aggressive Feinde hält.

Kaum klare Antworten

Anhaltspunkte für diese "Akzelerator-Hypothese" stammen ebenfalls aus epidemiologischen Studien - jüngst eine aus den USA, die bestätigt, dass Typ-1-Diabetes bei Übergewicht im Kindesalter früher ausbricht. Damit würde sich der Kreis schließen zur Bedeutung des Übergewichts bei Typ-2-Diabetes.

Doch bewiesen ist auch das nicht. Klare Antworten bei der Suche nach Ursachen gibt es kaum. "Vielleicht denken wir einfach zu simpel, wenn wir nur auf einige wenige Faktoren gleichzeitig schauen", sagt Knut Borch-Johnsen.

Klarer haben die Ärzte die Folgen einer unbehandelten Zuckerkrankheit vor Augen, die besonders das Herzinfarktrisiko erhöht, wie die Forscher in München betonten.Auch was diesen Zusammenhang angeht, wäre Nauru womöglich eine idealer Drehort für einen Lehrfilm über die Zuckerkrankheit: Der Präsident des Inselstaats, der 30 Jahre lang an Diabetes gelitten hatte, starb im vergangenen Jahr nach einer Herzoperation.

© SZ vom 9.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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