Umweltkatastrophe in Ungarn:Im Giftland

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"Das Dorf ist tot, vom Gift zerfressen": Nach der Katastrophe von Kolontár sucht das Dorf nach den Schuldigen. Alle wollen etwas gemerkt haben - aber keiner schlug Alarm. Auch, weil der Ort von dem Aluminiumwerk abhängig ist.

Michael Frank

Unterhalb von Devescer, dem in giftigem Bauxitschlamm schwimmenden Städtchen im westungarischen Komitat Veszprem, leuchten die Äcker rostrot.

"Sollen wir hier den Rest unseres Lebens mit Atemmasken rumlaufen?" Die Aussichten für die Bewohner der verseuchten Dörfer sind schlecht. (Foto: dpa)

Im Ort sammeln riesige Laster aus Sowjetzeiten die Helfer ein, die, zu ihrem Schutz wie Marsmenschen kostümiert, Schlamm schippen, Binde- und Neutralisierungsmittel gegen ätzende Lauge verstreuen, die Straßen bürsten, Gräben säubern. An der Kirche plärrt Musik eines lokalen Radiosenders über Lautsprecher des alten "Dorffunks", der öffentlichen Übertragungsanlage aus kommunistischer Zeit, durchsetzt mit unentwegt neuen Nachrichten über Schlamm, Gift, Aluminium.

Vor elf Tagen ist Giftschlamm aus dem Abraumbecken des Aluminiumwerks in Ajka geschwappt, hat wie eine Sintflut das Dorf Kolontár und fünf weitere Ortschaften überschwemmt, 40 Quadratkilometer Land überflutet und inzwischen neun Menschen das Leben gekostet. 50 Verletzte werden noch in Krankenhäusern behandelt. Den Schlamm müsste man komplett abtragen, in der Stadt, auf den Feldern. Das werde nie gelingen, sagt der Katastrophenschutz, es sei auch viel zu teuer. Also wird die ungeheure Giftfracht wohl liegen bleiben, die da mitgekommen ist: Nickel, Cadmium, Chrom, Arsen, Quecksilber.

In Ajka, der 35.000-Einwohner-Stadt, an deren Westrand das Unglückswerk steht, kämpfen sie gegen ganz andere Ängste. Die Metallschmelze Magyar Aluminium Rt. (MAL) ist einer jener düsteren Industriegiganten, deren Schäbigkeit zunächst zweifeln lässt, ob da eine Ruine steht oder eine arbeitende Werkstätte. Vor dem Tor ein Held der sozialistischen Arbeit in Eisen und eine schlaffe schwarze Flagge. Am Wochenende will man wieder produzieren. Die Regierung in Budapest hat das Werk, dessen Boss und Mitbesitzer vorübergehend in Untersuchungshaft saß, unter Staatskuratel gestellt.

Auf der Straße wird laut diskutiert. "Ich dachte, die Kommunisten sind weg. Wollen die das verstaatlichen?", johlt einer. Eine Frau antwortet leise: "Besser die Regierung schafft hier an, als dass die den Laden zusperren und verschwinden." Dann wären nämlich 1500 Beschäftigte ihre Arbeit los, und die Schlammopfer hätten gar keine Aussicht mehr auf Entschädigung. "Sie sollten sich das mal von innen anschauen," sagt ein Arbeiter. "Die hatten nie richtig Geld für Sicherheit und Modernisierung. Wie dann für den Abfall?" Mehr als 10.000 Schicksale hängen in der kleinen Stadt an dem Aluminiumwerk.

In der Gaststätte "Pronto", bei Schoproner Bier, berichtet der Frühpensionär Sandor, ein ehemaliger Arbeiter des Kieswerks, wie er das alles kommen sah.

"Ich kenne die Risse seit langem. Aber glauben Sie, ich hätte das je ernst genommen?" Sandor ist nicht allein damit, denn genau zwei Wochen vor der Katastrophe hat eine Staatskommission Werk und Becken begutachtet und nichts zu beanstanden gehabt.

Giftschlamm-Desaster in Ungarn
:Kampf gegen die Brühe

Die Bewohner des Katasrophengebiets in Ungarn müssen sich auf lange Aufräumarbeiten einstellen. Manche halten den Kampf gegen Giftschlamm bereits für aussichtlos.

Sandor sagt, es wäre ein Leichtes, sich jetzt als verkannter Prophet aufzuspielen. Er hat den Leuten schon lange erzählt, dass das da unten alles ziemlich brüchig ausschaut. "Aber für gefährlich habe ich das nicht gehalten." Dass übrigens rote Schlieren in den Abwassergräben rund um die Abraumseen ihre Bahn zogen, der Damm also undicht war, "wusste doch eigentlich jeder", meint er. Diese Beobachtung haben Luftbilder bestätigt. Und der Staub, der jetzt aufkommt, wenn die Brühe trocknet? "Schauen Sie sich doch den Wasserturm hinter dem Werk oder die Straßen in dieser Gegend an: Die waren schon rot angestaubt, lange bevor die Sache hier losging." Von gefährlichem Feinstaub, den man nun in immenser Höhe gemessen hat, war vor der Katastrophe sowieso nie die Rede gewesen.

Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban hat schwere Strafen für die Schuldigen des monströsen Unglücks angekündigt. Wird Sandor als Zeuge aussagen? "Wo denkst du hin!", empört er sich. "Dann fragen sie dich doch nur: Warum hast du nichts gemeldet? Alle hier haben was gemerkt, aber niemand hat was gemeldet. Weil man dachte, das wissen die doch, und das wird schon nichts bedeuten. "

Sandor kann erklären, warum man jetzt erneut einen Dammbruch fürchtet. Hinter dem geborstenen Becken, in dem sich jetzt noch zäher Giftschlamm befindet, liegt ein weiteres Giftbecken anderer Zusammensetzung. Wenn jetzt der schon kaputte Wall auf ganzer Front bricht, dann fließt auch der Zähschlamm langsam aus. Der morsche Deich zwischen den beiden Becken hätte dann keinen Gegendruck mehr, gäbe der Last seines Inhalts nach, ließe seine Giftflut in das schon beschädigte Becken brausen und risse noch den großen Rest des roten, zähen Schlamms nach draußen.

Darum haben sie in Kolontár einen 600-Meter-Damm errichtet, der die üble Masse, wenn sie denn kommt, ableiten soll. Zwölf Häuser hat man dafür abgerissen. Der neue Wall ist fertig, drum sollen die Bewohner am Sonntag wieder "heim" dürfen, nach Kolontár, weil sich auch die Bruchlinien im alten Deich derzeit nicht weiter vertiefen.

Károly Tili ist Bürgermeister von Kolontár. Ihm hat die Lauge im Schlamm bei den Hilfseinsätzen schon einige Paar Gummistiefel von den Füßen geätzt. Macht das alles Sinn? Gibt es hier noch ein Zuhause? "Das Dorf ist tot", sagt er, "vom Gift zerfressen." Sein eigenes Haus hat es, weil auf einer Anhöhe, nicht erwischt. "Aber was nutzt das? Es ist keinen Forint mehr wert." Fast alle hier wollen weg. Wie soll man in einem Garten, in einem Landstrich leben, wo man nichts mehr essen darf, was je wachsen wird, wo jede Blume giftig ist?

"Sollen wir hier den Rest unseres Lebens mit Atemmasken herumlaufen?", fragt der Bürgermeister.

© SZ vom 15.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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