Schließung des Straßenstrichs in Dortmund:Hure vom Wanderparkplatz

Weil sie sich auch mal was leisten wollte, fing Dany an, sich zu prostituieren. Doch dann schloss die Stadt Dortmund den Straßenstrich und verdrängte sie und ihre Kolleginnen in Hinterhöfe und Internetcafés. Oder an den Stadtrand, auf einen Wanderparkplatz, wo Vögel zwitschern und Freier rar sind.

Caroline Biallas und Alexander Spelsberg, Dortmund

Die schwarze Nylon-Strumpfhose schimmert im grellen Scheinwerferlicht der Autos. Die Frau steckt in einem pinkfarbenen Strickkleid, ihre Füße in hochhackigen Pumps. In der einen Hand glimmt eine Zigarette, in der anderen blinkt eine Taschenlampe. Dany ist Straßenprostituierte. Am Seitenstreifen einer Schnellstraße in Castrop-Rauxel wartet sie auf ihre Freier.

Am 16. Mai 2011 hat die Stadt Dortmund den Straßenstrich an der Ravensberger Straße geschlossen. Seitdem fährt Dany drei Mal pro Woche nach Castrop-Rauxel - immer mit zwei Kolleginnen, alleine ist es zu gefährlich. Es ist stockdunkel dort, in der Zufahrt zu einem einsamen Wanderparkplatz. Die nächste Siedlung ist Kilometer entfernt, es gibt keine Laternen. Autos und Lastwagen rasen die Straße entlang, ihre Scheinwerfer sind die einzigen Lichtquellen. Dany knipst die Taschenlampe an und leuchtet über den holprigen Schotterweg, der sich von der Straße zum Parkplatz schlängelt. Zerfetzte Aldi-Tüten liegen herum, im Gebüsch sind die Überreste eines Kondoms zu erkennen. "Ohne die Taschenlampen hätten wir hier gar kein Licht", sagt Dany, wirft die Zigarettenkippe auf den Boden und tritt sie aus. "Manchmal ist mir schon mulmig", sagt sie. "Neulich war ich alleine hier und der ganze Parkplatz war voll mit seltsamen Gestalten, das Gefühl war schon echt übel."

Dany ist 37 Jahre alt, Single, Mutter von drei Kindern und entspricht nicht gerade dem Klischee der Prostituierten. Sie ist nicht so puppenhaft, nicht so zierlich wie die Frauen in den Erotik-Clips im Fernsehen oder die Dollhouse-Stripperinnen von der Hamburger Reeperbahn. Ihre Statur ist stabil, ihre Art sich auszudrücken derb, sarkastisch, typisch Ruhrpott. Wenn Dany nicht anschafft, kleidet sie sich unauffällig - sportlich, mit schwarzem Kapuzenpulli und flachen Ballerinas. Sie stolziert dann auch nicht, eher marschiert sie, die karottenfarbenen Haare fallen in dichten Locken über die Schultern.

Ihr Privatleben will Dany für sich behalten, nur wenige Eckpunkte verrät sie. "Ich hab sogar 'nen Realschulabschluss", sagt sie bissig, lacht dabei laut. "Soll man ja nicht meinen." Mit 19 wird sie zum ersten Mal schwanger, bringt ihre Tochter zur Welt. Danach kellnert sie drei Jahre lang in einer Disco, wird noch zweimal schwanger, ist arbeitslos. Dany wirkt abgeklärt, als sie von den einzelnen Stationen erzählt, desillusioniert.

"Tust du es? Tust du es nicht?"

Eine Freundin von ihr, erzählt Dany, habe sich auf der Straße prostituiert. Irgendwann sei auch sie an den Punkt gekommen, an dem sie sich etwas leisten wollte, aber nicht konnte. "Dann hab ich lange hin und her überlegt: Tust du es? Tust du es nicht?" 2006 fällt sie ihre Entscheidung - und landet schließlich auch am Dortmunder Straßenstrich. Dort arbeitet sie fünf Jahre lang völlig unabhängig, ohne Zuhälter - sie kann selbst bestimmen, an welchen Tagen sie frei macht und zu wem sie ins Auto steigt. Wie andere Arbeitnehmer auch schickt sie am Ende des Jahres ihre Steuererklärung ans Finanzamt. Ein ganz normaler Job - zumindest für Dany.

Drei bis vier Mal pro Woche steht Dany im April 2011 an der Ravensberger Straße in Dortmund-Nordstadt, sie hat ihre Stammkunden und kann gut leben von dem Geld, das sie dort verdient. Die Nachmittagssonne brennt, die Frauen zeigen, was sie zu bieten haben: lange, nackte Beine, tiefe Dekolletés - viel Sex für wenig Geld. Je besser das Wetter, desto mehr Autos kurven durch die Straße hinter dem Baumarktgelände: Die Fahrer gaffen, halten an, verhandeln, die Bässe wummern.

Vorzeigestrich mit Verrichtungsboxen

Als der Dortmunder Straßenstrich um die Jahrtausendwende an der Ravensberger Straße entsteht, gilt er lange Zeit als Vorzeigemodell. Im Blechcontainer der katholischen Beratungsstelle "Kober" können die Prostituierten den Sozialarbeiterinnen ihre Probleme klagen, Snacks und Kondome kaufen und sich kostenlos vom Arzt untersuchen lassen. Mit den Freiern fahren die Frauen in sogenannte Verrichtungsboxen und haben dort Geschlechtsverkehr, meist im Auto, ab und zu auch auf der Motorhaube. Für Notfälle gibt es rote Alarmknöpfe an den Bretterwänden - die Frauen drücken, ein lautes Signal schrillt, die Sozialarbeiterinnen oder die anderen Frauen eilen zur Hilfe.

Zunächst arbeiten nur etwa 60 Frauen an der Ravensberger Straße, viele Jahre lang geht es dort friedlich zu. Seit der neuerlichen EU-Osterweiterung im Jahr 2007 kommen immer mehr Frauen dazu - zuletzt werden 700 verschiedene Sexarbeiterinnen registriert, darunter immer mehr Bulgarinnen und Rumäninnen. Die Konkurrenz wird größer, der Ton schärfer, die Preise niedriger.

Als Dany im vergangenen Jahr erfährt, dass die Stadt Dortmund den Strich schließen will, kämpft sie um ihre Arbeitsstätte. Sie trifft sich mit Lokalpolitikern, schreibt Briefe und Mails, organisiert eine Prostituierten-Demonstration vor dem Rathaus, schaltet einen Anwalt ein. "Ich bin ein Mensch, der sich grundsätzlich nichts verbieten lässt", sagt sie mit scharfem Ton. Zuletzt klagt sie beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen gegen die Schließung - vergeblich. Am 16. Mai 2011 wird die gesamte Stadt zum Sperrbezirk für Prostitution erklärt.

Polizei und Ordnungsamt fahren seitdem mehrmals täglich die Nordstadt ab, wer beim "Anbahnungsgespräch" erwischt wird, muss ein Bußgeld zahlen.

Aus den verschnörkelten Jugendstilhäusern wehen zerschlissene BVB-Flaggen, vor den verdreckten Hauseingängen türmt sich der Müll: Fernsehsessel, Wattestäbchen, mittendrin gebrauchte Spritzen. Auf dem Spielplatz sitzt ein Kind auf der quietschenden Wippe. Nebenan, vor der Trinkhalle, spritzen sich Junkies ihren ersten Schuss, morgens um elf. Die Dortmunder Nordstadt ist ein Kiez der Kulturen - hier leben Einwanderer aus vielen Nationen, aber auch Künstler und Aussteiger, Alternative, Sozialhilfeempfänger und Studenten. In den vergangenen Jahren hat sich die Lage dort verschärft: Häuserblöcke verwahrlosen, Wohnungen vermüllen, es gibt Messerstechereien und Schießereien.

"Diese Zuwanderer und insbesondere die Männer sorgen dafür, dass im Viertel die Kleinkriminalität blüht", sagt Marita Hetmeier, Nordstadtbewohnerin und SPD-Politikerin im Dortmunder Stadtrat. Auch der Straßenstrich habe sich zunehmend zum Negativen entwickelt. Immer mehr Osteuropäerinnen hätten sich dort prostituiert, außerdem sei es vermehrt zu Schlägereien unter den Frauen gekommen. "Der Straßenstrich war der Anziehungspunkt für viele Kriminelle geworden, die Probleme im Viertel verursachten. Damit das in Zukunft nicht mehr möglich ist, haben wir den Strich geschlossen", ergänzt Hetmeier.

Blauer "Lidschatten" aus Essen

Nachdem der Dortmunder Strich schließt, versuchen Dany und ihre Kolleginnen es zunächst im 40 Kilometer entfernten Essen, am alten Kirmesplatz. Nach einer halben Stunde Aufenthalt kommt ein Mann, der ihnen einen Wohnwagen aufschwatzen will. Aus Sicherheitsgründen, damit sie nicht von den Essener Prostituierten weggejagt werden. Auf dem Strich gilt das Gesetz der Straße - die Essener Frauen haben hier ihr Revier, Dortmunderinnen werden nicht geduldet. "Ich habe auch von verschiedenen Kolleginnen gehört, dass sie in Essen regelmäßig das Gesicht verschönert bekommen", sagt Dany, Ironie in der Stimme. "Die brauchen keinen blauen Lidschatten mehr."

Während Dany und die anderen Prostituierten immer mehr um ihre Existenz bangen, feiern Stadt und Polizei die Schließung des Straßenstrichs als Erfolg. Anfang Juli ziehen Politiker und Polizisten ein positives Zwischenfazit für die Nordstadt. Ein "deutlicher Rückgang der Straßenprostitution" sei inzwischen erkennbar, heißt es auf einer Pressekonferenz. Seit Mai hätte das Ordnungsamt 380 Platzverweise gegen Prostituierte erteilt, 170 Belehrungen ausgesprochen und 27 Frauen in Gewahrsam genommen. Gegen Freier habe es 169 Platzverweise und 71 Ordnungswidrigkeitsanzeigen gegeben.

Prostitution in Internetcafés

Zwar ist es rund um den ehemaligen Straßenstrich an der Ravensberger Straße tatsächlich ruhig geworden, doch das Gewerbe hat sich eher verlagert als aufgelöst: Sie und ihre Kolleginnen hätten 107 Frauen beobachtet, die weiterhin im Sperrbezirk der Prostitution nachgingen, berichtet Elke Rehpöhler, Leiterin der Prostituiertenberatung Kober - eine herzliche Frau um die 50, mit hellblonden Haaren und weicher Stimme. Die Dunkelziffer, vermutet sie, sei allerdings noch höher. Seit die Frauen nicht mehr an der Ravensberger Straße stehen dürfen, ist auch der Beratungscontainer dicht. Elke Rehpöhler berät die Prostituierten jetzt in einem anderen Nordstadt-Büro. Von der Strichschließung hielt sie von Anfang an nicht viel. "Die Prostitution wird sich lediglich in die Wohngebiete der Nordstadt verlagern, aber nicht auflösen", prognostizierte Rehpöhler bereits vor der Schließung.

Ihre Vermutung bestätigt sich: Die Frauen laufen jetzt durch die abgelegenen Seitenstraßen der Nordstadt, stehen abends rauchend in Hauseingängen oder sitzen in einem der vielen Internetcafés - getarnt in Jeans und Turnschuhen, immer auf der Suche nach einem potentiellen Freier. Männer werden umgarnt, direkt gefragt, ob sie mitkommen möchten. Zum Geschlechtsverkehr kommt es dann entweder in der Wohnung der Frau oder der des Freiers, manchmal auch im Hinterzimmer eines Cafés. "Das Problem ist, dass wir die Prostituierten und Freier bei einem Verhandlungsgespräch ertappen müssen", sagt Polizist Karsten Jung, der für den Bezirk Nordstadt zuständig ist. "Wenn die Frauen einfach nur im Internetcafé sitzen, können wir ihnen nichts nachweisen."

Ein roter Fiat Panda bremst ab und wird langsamer. Sofort posiert Dany am Seitenstreifen vor dem Wanderparkplatz, doch am Steuer sitzt eine Frau, sie mustert die Prostituierte ausgiebig. Dany ist enttäuscht - wieder kein Freier. "Es ist schon ziemlich unangenehm, an so einer öffentlichen Straße zu stehen, wo auch Familien und Mütter mit ihren Kindern entlangfahren", sagt sie. Ihr Handy klingelt, "DJ got us fallin' in love again" von Usher. Ein Mann ist am Apparat. Sie redet nur kurz mit ihm. "Ich sag mal so, 'ne halbe Stunde wirst du für den Preis nicht kriegen." Sie legt auf und schimpft noch kurz über all jene Männer, die immer mehr Fantasien für immer weniger Geld ausleben möchten. "Die sollen sich doch bitte selbst einen von der Palme wedeln!"

Nach dem gescheiterten Versuch auf dem Essener Straßenstrich hat sich Dany entschieden, außerhalb der Dortmunder Stadtgrenze zu arbeiten. Der Wanderparkplatz, der direkt an einer Schnellstraße nach Castrop-Rauxel liegt, bietet sich da an. Der Ort sei zwar von der Lage her nicht schlecht, sagt sie, doch sicher sei man hier nicht. Deshalb haben sie und zwei ihrer ehemaligen Straßenstrich-Kolleginnen eine Fahrgemeinschaft gegründet. "Wir drei passen halt aufeinander auf."

Abrutschen in Hartz IV

Nur ein paar zerknüllte Zeitungen, ein leere Cola-Dose und Zigarettenstummel liegen noch am ehemaligen Straßenstrich herum. Die Verrichtungsboxen sind seit zwölf Monaten abgerissen, der Beratungscontainer steht leer, ein älterer Mann in Trainingsjacke führt seinen Rauhaardackel aus. Ein Jahr nach der Straßenstrichschließung verwaist die Ravensberger Straße. Ein inoffizieller Strich hat sich längst etabliert. Der "harte Kern" - zu dem laut Elke Rehpöhler "die osteuropäischen und drogenabhängigen Frauen" gehören - schleicht mittlerweile am Nordmarkt oder Schleswiger Platz herum. Gegenden, in denen sich triste Internetcafés, Wettbüros und Kioske aneinanderreihen.

Tag für Tag rasen die Autos am Wanderparkplatz an der Schnellstraße vorbei, es riecht nach Benzin und Abgasen, Vögel zwitschern in den Laubbäumen. Dany wartet weiter am Straßenrand, spaziert auf und ab, zündet sich eine Zigarette an. Wenn sie Glück hat, hält jemand an und sie kann zu ihm ins Autos steigen. Finanziell, sagt sie, gehe es ihr deutlich schlechter als an der Ravensberger Straße. Dany zieht, inhaliert den Tabakrauch tief und bläst ihn langsam in die Luft. Sie sei deshalb in eine kleinere Wohnung gezogen, so spare sie 125 Euro Miete und 30 Euro Stromkosten. Doch auch das reicht längst nicht mehr zum Leben. Demnächst, sagt Dany, muss sie wohl Hartz IV beantragen.

Für die Multimedia-Reportage haben die Journalistik-Studenten Caroline Biallas und Alexander Spelsberg die Prostituierte Dany ein Jahr lang begleitet, sie immer wieder zu Filmaufnahmen und Interviews getroffen. Entstanden ist dabei außerdem ein Dokumentarfilm, zu finden unter www.do1.tv.

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