Italien:Amatrice - Zone des Versagens

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Blick auf die Sperrzone des Zentrums von Amatrice - die Aufnahme stammt vom 1. August 2017. (Foto: dpa)
  • Am 24. August bebte die Erde in Mittelitalien heftig - 235 der insgesamt 299 Opfer starben in Amatrice.
  • Trotz der Versprechen der Regierung und der großen Solidarität aus der Bevölkerung ist innerhalb eines Jahres kaum etwas passiert - noch immer leben Tausende in Wohnwagen und Containern.
  • Schuld sind die komplizierte Bürokratie und die Launen der Natur.

Von Oliver Meiler, Rom

Noch immer schauen Stofftiere aus den Trümmerhaufen, Schuhe, Kleider, Hausrat aller Art, Lebensmittel in vergilbten Verpackungen. Erinnerungen an jene Nacht, als es in Amatrice plötzlich Winter wurde, kalt, mitten im Sommer. Um 3.36 Uhr, am 24. August 2016. Ein Jahr ist es her, da in Mittelitalien die Erde bebte. Und wenn nun das italienische Fernsehen Bilder von den Dörfern zeigt, die damals hart getroffen wurden, von Amatrice, Accumoli, Arquata und Pescara del Tronto, dann sieht es so aus, als sei die Zeit da oben, am Fuß der Monti Sibillini, einfach stillgestanden. Besonders eindrücklich sind die Aufnahmen aus der Höhe vom zerstörten Zentrum Amatrices, der "Zona rossa". Fast alle Trümmer sind noch da. Man hat sie nur ein bisschen zusammengekehrt, damit die Straßen frei sind für die Bagger.

Sergio Pirozzi, der Bürgermeister des Orts, in dem 235 der insgesamt 299 Erdbebenopfer umkamen, war seit dem Beben nie mehr in der "roten Zone". Er begleitete auch die prominenten Besucher nicht, wie es das Protokoll vorsähe: weder den Papst, noch Prinz Charles, auch Kanadas Premier und den Präsidenten Italiens nicht. Weil ihn der Anblick schmerze, sagt Pirozzi, man möge das respektieren, er sei schließlich zuerst Mensch. Zurückkehren werde er erst, wenn der Bauschutt weggeräumt sei und erste Zeichen des Lebens blühten, Symbole der Wiedergeburt des Dorfes.

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16 Stunden haben die Helfer gearbeitet - dann war auch das letzte Kind geborgen. Für zwei Frauen kam jede Hilfe zu spät. Das Beben der Stärke 4,0 hat auf der Urlaubsinsel mehrere Häuser einstürzen lassen.

Das wird noch lange dauern. Der Umweltverband Legambiente schätzt, dass erst 8,5 Prozent der Trümmer weggebracht worden sind - insgesamt, aus allen 133 Gemeinden in den vier Regionen Latium, Marken, Abruzzen und Umbrien, die im vergangenen Jahr von einem oder mehreren Beben getroffen wurden. Mehr als hunderttausend Nachbeben gab es schon seit jener Nacht im August. Zwei Mal, im Herbst und im Winter, waren die Erdstöße aber so stark, dass Häuser einstürzten, die dem ersten Beben noch einigermaßen standgehalten hatten. Natürlich erschwerte das die Räumung. Und dann war der jüngste Winter auch noch der härteste der letzten sechs Jahrzehnte. Bis zu drei Meter Schnee behinderten die Arbeiten der Armee und des Zivilschutzes zusätzlich.

Dennoch ist der Ärger groß. Die Geschichte mit den Trümmern ist mindestens ebenso sehr der Bürokratie geschuldet wie den Launen der Natur. Das Problem beginnt bei der Vergabe von Aufträgen an Drittfirmen. In der Vergangenheit war es Unternehmen der Mafia allzu oft gelungen, sich an der Räumung und am Wiederaufbau nach Naturkatastrophen zu bereichern. Nicht selten verdienten daran auch korrupte Beamte und Politiker. Diesmal schaut der Staat genau hin, die Regeln wurden neu geschrieben. Das finden alle löblich, und es braucht seine Zeit. Doch es erklärt nicht das Ausmaß des Verzugs.

Zeit braucht auch die Trennung des Schutts: Zuerst wird nach Asbest gesucht, das muss separat entsorgt werden, dann kommen Eisen, Holz und die persönliche Habe der Opfer und ihrer Angehörigen. Der "Kunstschutt", die Reste mit kulturhistorischem Wert, müssen vom Kulturministerium inspiziert werden. Offenbar wird immer noch nach Plätzen gesucht, wo die Trümmer entsorgt werden können.

Der Bürgermeister droht, eine Grafschaft zu gründen. Um selber über die Steuern zu bestimmen

Im Erdbebengebiet kommt es unterdessen vielen so vor, als flackerte das Interesse der Öffentlichkeit nur dann kurz auf, wenn die Scheinwerfer angehen. Im Verzug ist man auch mit den provisorischen Behausungen für Obdachlose. Nach dem Beben hatte die Regierung versprochen, niemand werde länger als sieben Monate warten müssen, bis er wieder unterkomme. Es hieß auch, man werde keine Zeltlager errichten, sondern richtige Siedlungen in den Dörfern. Nun, die Gemeinden bestellten 3830 Fertighäuser. Es stehen erst 456, bewohnt ist die Hälfte. Noch immer leben Tausende in Containern und Wohnwagen. Und 4274 wohnen seit der Katastrophe in Hotels, weit weg von ihren Dörfern.

Ungelöst bleiben auch finanzielle Fragen. Die Bürgermeister aus den Gemeinden, die am stärksten getroffen wurden, fordern einen Steuererlass für vier Jahre - eine "Zona franca", damit die, die alles verloren haben, wieder atmen können und Tritt finden, ein Einkommen, eine Zukunft. In Rom gibt man sich mal generös, mal knauserig. Im Moment sieht es so aus, als würde der Staat den Bürgern, die weniger als 100 000 Euro verdienen, und Unternehmen, die weniger als 300 000 Euro im Jahr einnehmen, zwei Jahre Steuerfreiheit gewähren. Aber reicht das? Sergio Pirozzi droht regelmäßig, aus Amatrice eine Grafschaft zu machen. So könnte er das Steuerregime selber bestimmen. Geld ist da, die Solidarität war groß.

Das Vertrauen in den Staat leidet unter dem Hin und Her. Und nun hat auch noch der Sonderkommissar der Regierung für den Wiederaufbau, Vasco Errani, seinen Rücktritt verkündet. Überraschend, nach einem Jahr. Es heißt, er habe Aussicht auf einen Listenplatz einer kleinen linken Partei für die nächsten Parlamentswahlen.

Vom Wiederaufbau, den Errani begleiten sollte, ist nicht viel zu sehen. Nur kleine Initiativen. Etwa die "Area Food", ein schöner Holz- und Glasbau, entworfen vom Mailänder Stararchitekten Stefano Boeri und finanziert aus privaten Spenden. Sieben alte Lokale kommen im unlängst eingeweihten Komplex unter, auch das Ristorante Roma, einst das gastronomische Herz des Dorfes. Es pries sich dafür, die besten Spaghetti all' Amatriciana der Welt zu machen. Das Restaurant war auch ein Hotel, es wurde vollständig zerstört. Nun kocht die Familie Bucci wieder, die Plätze sind immer ausgebucht. Wenigstens jetzt, mitten im Sommer.

© SZ vom 24.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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