Heiligsprechung von Papst Johannes XXIII.:Sakrosankt in finsteren Zeiten

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Volksheld und Vorbild: Papst Johannes XXIII. (1881-1963) verbindet viel mit dem gegenwärtigen Papst. (Foto: dpa)

Hannah Arendt pries ihn als "wahren Papst", nun wird er heilig gesprochen: Johannes XXIII. reformierte die katholische Kirche, besuchte Gefangene, sprach mit Arbeitern - und gab diesen mitunter Nachhilfe beim Fluchen.

Von Willi Winkler

Merkwürdig, sogar ein Zirkus heißt so wie er. Seine Popularität war 1975 noch immer so groß, dass Bernhard Paul und André Heller ihr Jahrmarktsunternehmen neuen Stils nach jenem Angelo Giuseppe Roncalli tauften, der am 28. Oktober 1958 zum Papst gewählt wurde, 1962 das kirchenrevolutionäre Zweite Vaticanum einberief und am kommenden Sonntag zusammen mit Johannes Paul II. heiliggesprochen werden soll.

Die Welt, nicht nur die katholische, atmete auf, als 1958 endlich das Joch seines Vorgängers Pius XII. von ihr genommen wurde. Der Römer Eugenio Pacelli hatte nicht nur vernehmlich zur Judenverfolgung im Dritten Reich geschwiegen, er begriff sich als Aristokrat und pflegte deshalb eine rigide, dabei wachsbleiche Amtsführung. Das Kirchenvolk wurde auf möglichste Distanz gehalten und erfuhr von ihm allenfalls, dass er 1950 die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel zum Dogma erklärte und sich selber einer Kur bei dem legendären Paul Niehans unterzog, der mit seinen Frischzellen im Notfall auch die böse Homosexualität zu heilen versprach.

Für den Überdruss an diesem Pontifikat gab es keinen besseren Ausdruck als Rolf Hochhuths Stück "Der Stellvertreter", das von christlichen Fundamentalisten bis hin zu Wikipedia deshalb bis heute nicht bloß als Teufelswerk, sondern als Auftragsarbeit für den KGB denunziert wird. Dieses "Christliche Trauerspiel" hatte am 20. Februar 1963 Premiere an der Berliner Freien Volksbühne, eroberte sogleich das katholische Europa und kam im Jahr darauf sogar in New York heraus.

Papst Franziskus
:Ostergrüße aus dem Vatikan

Vor mehr als 150.000 Besuchern feierte Papst Franziskus am Sonntag die Ostermesse und spendete den Segen "Urbi et Orbi". Die Bilder der Osterwoche.

Der Erfolg in Amerika war nicht zuletzt Hannah Arendt zu verdanken, die eigens ins amerikanische Fernsehen ging, um sich für den "Stellvertreter" und dessen Autor einzusetzen. Die Verdammung des Vorgängers, der sich bei Hochhuth demonstrativ die Hände wäscht, wurde durch die Popularität von Johannes XXIII. noch verstärkt. Anfang 1964 kolportierte Hannah Arendt in einem Brief an ihre Freundin Mary McCarthy ein Gerücht, das zu gut scheint, um auch noch wahr zu sein. Roncalli habe nach Lektüre des Hochhuth-Stücks geäußert: "Man kann nichts gegen die Wahrheit tun."

Die Wahrheit ist nicht bloß konkret, sie braucht auch Männer und Frauen, die sie zu vertreten wissen. Einer wie Johannes XXIII., der einen Namen angenommen hatte, den zuletzt ein illegitimer Gegenpapst im Mittelalter geführt hatte, war alles andere als ein papabile; als Außenseiter war er fürs höchste Kirchenamt schon wegen seiner bescheidenen Herkunft nicht vorgesehen. Seine bäuerliche Frömmigkeit schien ihn für die Hierarchen ungefährlich zu machen, sein gesetztes Alter garantierte, dass er nicht lange leben würde. Trotzdem wurde der Mann aus Bergamo der große Revolutionär, ein Kirchenfürst, der Gefangene besuchte, mit Arbeitern sprach und die Gehälter der Angestellten erhöhte.

Enklave Vatikan

Obwohl der einst so mächtige Kirchenstaat längst auf eine Enklave in Rom geschrumpft war, regierte der Papst bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Prachtentfaltung eines oströmischen und gottgleichen Kaisers. Johannes XXIII. stellte sich, unerhört bis dahin, mit dem Bibelwort "Ich bin Josef, euer Bruder" vor, ein Mann Gottes, aber auch des Volkes. Als er die Arbeiter vor seinen Gemächern nach gut katholischer Art blasphemisch fluchen hörte, kam er heraus, verbat sich diese Sprache und empfahl ihnen, sich wie er mit einem einfachen proletarischen merde zu begnügen. So wird man zum Volkshelden.

Dieser Heilige Vater, der für Hannah Arendt kein Heiliger, sondern ein frommer Mensch war, einer, der seiner Kirche gehorchte, indem er auch befolgte, was Jesus lehrte, war ihr so wichtig, dass sie, was ihre Freundin Mary McCarthy gar nicht verstehen mochte, ihren Papst-Aufsatz aus der New York Review of Books in die Sammlung "Menschen in finsteren Zeiten" (zuerst 1968) aufnahm - ein Papst im Kreise so unterschiedlicher weltlicher Heiliger wie Bert Brecht, Walter Benjamin, Rosa Luxemburg und, bei Hannah Arendt unvermeidlich und seit der französischen Ausgabe von 1974 dabei: Martin Heidegger.

Johannes XXIII. der Gegen-Papst

Johannes XXIII. ist für sie der wahre, also der Gegen-Papst, ein Papst, der gegen die Kirche steht, die sich "mehr mit der Aufrechterhaltung dogmatischer Glaubenssätze als mit schlichter Frömmigkeit" befasst. Dass ausgerechnet eine gottlose Jüdin das Oberhaupt der katholischen Kirche wegen seiner Frömmigkeit preisen würde, ist nicht ganz so überraschend, wenn man sieht, wodurch sich Johannes XXIII. gegenüber seinem Vorgänger auszeichnet.

Hannah Arendt zitiert, was Roncalli, damals Apostolischer Delegat in der Türkei, dem dorthin abgeschobenen Hitler-Vorgänger Franz von Papen auf dessen Forderung, Deutschland im Krieg gegen die Sowjetunion zu unterstützen, erwidert haben soll: "Und was soll ich über die Millionen Juden sagen, die Ihre Landsleute in Polen und Deutschland ermorden?" 1945 wandte sich Roncalli an den Vorsitzenden des Nürnberger Militärtribunals und verwies darauf, dass ohne Papens Hilfe viele Juden nicht hätten gerettet werden können. Und so rettete der künftige Papst den Obersten Mitläufer des Dritten Reiches; Papen, der ehemalige Stellvertreter Hitlers, wurde 1946 in Nürnberg freigesprochen.

Der gegenwärtige Papst, den in seinem bescheidenen Auftreten so viel mit seinem Vorläufer verbindet, hat dessen Kanonisierungsprozess abgekürzt. Um in den kirchlichen Stand der Heiligkeit erhoben zu werden, müssen üblicherweise Wunder nachgewiesen werden, die sich nach Anrufung des prospektiven Heiligen oder, zu dessen Lebzeiten, durch ihn selber ereignet haben. In Anthony Burgess' theologisch ausgefuchsten Roman "Der Fürst der Phantome" (1980) ist es ausgerechnet ein unheilbarer gottloser Schwuler, der als einziger bezeugen kann, dass der spätere Papst ein Wunder bewirkt hat.

Burgess schildert einen mit sämtlichen Lastern versehenen Pragmatiker (nur den Zölibat hält er ein) namens Carlo Campanati, der sich im Lauf seiner Kirchenkarriere einen ordentlichen Bauch anfrisst. Mit seiner Gottesfürchtigkeit, gar seiner Demut ist es nicht weit her: "Der schleimt sich über Gottes Willen aus, und das Leiden überlässt er anderen", sagt jemand über ihn. Vor allem ist er alles Numinosen entkleidet, ein Weltmann und bestimmt keiner der Kirche.

Bemühen um Volksnähe

Doch gerade deswegen steigt er zum Papst auf, zu einem Papst, der in mehr als einem Zug dem guten Menschen Giuseppe ähnelt, der das aggiornamente forderte, die Aktualisierung der Kirche und deshalb das Zweite Vatikanische Konzil einberief, um die Una Sancta menschlicher, zeitnäher zu machen, aber es sich dabei mit Diaspora-Katholiken wie Burgess auf alle Zeiten verdarb, weil im Bemühen um Volksnähe auch der lateinische Ritus abgeschafft wurde.

"Earthly Powers" (Irdische Mächte), wie der Roman im Original heißt, hält die besonders bittere Pointe bereit, dass ein Großneffe des Papstes nach Afrika gelangt, wo die Evangelien, genauer gesagt, Jesu Einsetzungsworte beim Abendmahl, wörtlich genommen werden: Hoc est corpus meum -"Nehmt und esst, das ist mein Leib!" (Matthäus 26, 26-28) hatte Jesus gesagt. Der afrikanische Priester, Katholik, aber mit höchströmischer Erlaubnis weiter der Stammesreligion verhaftet, verteilt weißes Menschenfleisch unter den Gläubigen und nennt es die Eucharistie.

Roman als Rummelplatz

"Earthly Powers" ist ein Rummelplatz von Roman, ein wüstes Panorama des wüsten 20. Jahrhunderts, in dem ausgerechnet der christlichste Papst im Bunde mit dem Teufel zu sein scheint, ein Mephisto und Teil jener Kraft, die das Gute will und stets das Böse schafft. Das Wunder, das der noch junge Carlo Campanati vollbrachte, besteht in der Heilung eines sterbenskranken Knaben, der sich als Erwachsener zum Sektenführer aufschwingt und in einer anderen Eucharistiefeier à la Jim Jones seinen Anhängern Giftpillen verabreicht.

Burgess, der 1993 starb, amüsiert sich gut strukturkonservativ über Homo-Ehen, Beat-Messen und Welt-Priester, dämonisiert dabei aber den stetig aufsteigenden Campanati, der auf eine ökumenischen Weltverschwörung hinarbeitet, in der alle Unterschiede nivelliert und alle Glaubenssätze der Modernität geopfert werden. Das hat nichts mit der Nostalgie der Kostüm-Katholiken zu tun, die der lateinischen Messe und den byzantinisch-strengen Vorschriften der Kirche nachtrauern, die durch das Zweite Vatikanische Konzil abgeschafft wurden.

Kumbayaisierung der Glaubensausübung

Burgess stellt die Frage der Theodizee noch einmal ganz neu am allerdings wenig geeigneten Beispiel des gutmütigsten Papstes der ganzen Geschichte. Johannes XXIII., der sogar in den Moslems "meine Brüder" sah, in Italien so populär wurde wie der stigmatisierte Padre Pio, hatte nichts von dem fürchterlichen Anti-Christ, den Burgess zeichnet, aber er steht am Anfang einer Kumbayaisierung der katholischen Glaubensausübung, wozu die Protestanten schon vorher ihre Zuflucht genommen hatten.

Hannah Arendt, die sich in Rom aufhielt, als er im Frühsommer 1963 im Sterben lag, berichtet von einem Zimmermädchen, das ihr die rhetorische Frage stellte: "Wie konnte ein wirklicher Christ auf den Heiligen Stuhl zu sitzen kommen?" Am Sonntag wird ein Mensch in finsteren Zeiten heiliggesprochen.

© SZ vom 23.04.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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