Dortmunder Hochhauskomplex "Hannibal II":"Brandschutz? Ach, das bedeutet, hier kommen wir nie mehr rein"

Ein Dortmunder Hochhaus bekannt als Hannibal wird aus Gründen des Brandschutzes geräumt Dier Bew

Im Hannibal in Dortmund wohnten mehr als 800 Menschen - ob sie dorthin zurückkönnen, ist ungewiss.

(Foto: imago/Cord)

Nachdem der Hochhauskomplex "Hannibal II" in Dortmund seine Brandschutzgenehmigung verloren hat, stehen 800 Menschen ohne Bleibe da. Betroffen sind überwiegend sozial benachteiligte Familien.

Von Lea Kramer, München, und Christian Wernicke, Dortmund

In dicke dunkelblaue Jacken gehüllt gehen die Mitarbeiter des Ordnungsamtes durch jede Etage. Sie stellen sich auf eine lange Schicht ein. 412 Wohnungen gilt es zu öffnen, um auf Listen die mehr als 800 Bewohner abzugleichen, die im "Hannibal II" gemeldet sind.

Die Behörden-Vertreter haben Flugblätter mitgebracht. Auf mehreren Seiten wird auf Deutsch, Polnisch, Englisch, Französisch und Arabisch erklärt, warum die Mieter die Hochhaussiedlung am Vogelpothsweg im Dortmunder Stadtteil Dorstfeld plötzlich verlassen müssen: Brandschutzmängel sind die Gründe, es besteht akute Gefahr für Leib und Leben.

Die Räumung sei "unumgänglich", entschied ein Krisenstab der Stadt. Die Bauaufsicht hatte bei einer Ortsbegehung mit der Feuerwehr am Dienstag festgestellt, dass nach ungenehmigten Umbauarbeiten kein Brandschutz mehr in dem Gebäudekomplex bestehe. Vor allem die Tiefgarage entspreche nicht mehr den Richtlinien. Es gebe keine ausreichende Trennung zwischen dem Parkdeck im Untergeschoss und den Wohnungen. Durch "nicht brandsichere Schächte mit direkten Verbindungen in die Wohnungen" bestehe "akute Verrauchungsgefahr", zudem fehlten Rettungswege, heißt es in einer Mitteilung der Stadt.

Warten auf Freunde und Evakuierungsbusse

Viele Mieter saßen bereits am frühen Donnerstagabend auf gepackten Taschen vor dem Haus, obwohl die offizielle Evakuierung erst um 19 Uhr starten sollte. So auch Hez Chen Wang. Er ist 25 Jahre alt und stammt aus China. Zum Studium ist er nach Deutschland gekommen. An der Universität in Dortmund lernt er Elektrotechnik und Informatik. Gemeinsam mit zwei Kommilitonen hat er seit fast einem Jahr in der elften Etage des Gebäudes gewohnt. Gemeinsam zahlten sie 600 Euro für ihre Wohnung. "Das Haus ist schon sehr alt. Mindestens einen Tag im Monat war der Aufzug kaputt", sagt er.

Die Dortmunder Siedlung stammt aus den Siebzigerjahren. Seither wurde wenig gemacht, auch Instandhaltungen wurden vernachlässigt. Immer wieder geriet das "Hannibal" wegen baulicher Mängel in die Schlagzeilen. Vor sechs Jahren hat der Finanzinvestor "Lütticher 49 Properties" mit Sitz auf Zypern den Komplex ersteigert. Der Investor ist wiederum mit dem Unternehmen "Intown" aus Berlin verbandelt, dem auch andere Problemimmobilien in Deutschland gehören, zum Beispiel das Ihme-Zentrum in Hannover oder das Ende Juni wegen Brandgefahr geräumte Hochhaus auf der Hilgershöhe in Wuppertal. In Dortmund-Dorstfeld hatte das Unternehmen eine Sanierung angekündigt. Die Mieter warteten vergeblich.

Unten auf der Straße steht Student Wang neben seinem grauen Rollkoffer, zwei weitere hat er bereits zu einem Freund gebracht. Erst jetzt wird ihm bewusst, was um ihn herum passiert: "Brandschutz? Ach, das bedeutet, hier kommen wir nie mehr rein." Sein Trost: In einem Monat wollte er ohnehin nach Hannover umziehen.

Für andere Mieter bleibt die Ungewissheit. Wie lange sie ihren Wohnungen fernbleiben müssen, ist noch nicht absehbar. "An Hannibal II sind erhebliche Umbauarbeiten durch den Eigentümer nötig, deren Dauer noch nicht abzuschätzen ist", sagt Ludger Wilde, Leiter des städtischen Krisenstabs. Zunächst werden alle, die nicht bei Freunden oder Verwandten unterkommen, in Notunterkünfte gebracht. 500 Feldbetten wurden aus Wuppertal in die Helmut-Körnig-Halle, ein Leichtathletikzentrum, transportiert. 48 Stunden können Betroffene nun dort bleiben.

Nur wenige nutzen das Angebot, etwa hundert sind am Abend in der Halle angekommen, die gleich neben dem Fußballstadion von Borussia Dortmund steht. Bei Konzerten feiern hier bis zu 4000 Menschen, 2018 soll die Leichtathletikmeisterschaft in der Halle stattfinden. Jetzt ist das Gebäude in drei Bereiche unterteilt. Gegessen wird an hölzernen Biertischen, wie man sie aus dem Festzelt kennt. Neben Rennbahn und Hochsprunganlage gibt es einen Schlafbereich für Männer. Hinter Sichtblenden beginnt der gesonderte Bereich speziell für Frauen und Kinder.

Dortmund hat Übung mit Räumungen

Die Familie aus Haus 24, die in Dorstfeld etwas abseits an einem Kinderspielplatz steht, beeindruckt das wenig. Zwei Mütter mit drei Kinderwagen und ein älterer Herr warten dort auf den "Opa", wie die zehnjährige Tochter erzählt. Der habe ein Haus und könne sie aufnehmen. Von Übernachtungen in Massenunterkünften haben alle genug. Erst kürzlich sind sie aus dem vom Krieg zerstörten Aleppo nach Dortmund gekommen.

Begleitet wird die Räumung von vereinzelten "Merkel muss raus"-Rufen. Der Block aus Hochhäusern liegt in einem Brennpunktviertel, die Arbeitslosenquote ist hoch, die Einkommen liegen unter dem Dortmunder Durchschnitt. Die Mieten sind niedrig, deshalb wohnen viele sozial benachteiligte, einkommensschwache Familien, Studenten und seit einiger Zeit auch Flüchtlinge in "Hannibal II".

Anwohner erzählen, dass die Mitteilungen von überwiegendem Leerstand falsch seien - alles sei "pickepackevoll". Das reibt die Neonazis auf, die seit einigen Jahren im Stadtteil aktiv sind. Drei von ihnen werden dann auch während der Räumung von der Polizei festgesetzt. Einer trägt ein graues Sweatshirt mit der Aufschrift "Viking Company", ein Logo, das sich die Nazimarke Thor Steinar markenrechtlich eintragen ließ. Bei den anderen beiden, knapp zwanzig Jahre alt, steht "Vorwärts Germania" auf den schwarzen T-Shirts. Es ist der Albumtitel der beliebten Rechtsrocker "Heldenschwert". Sie werden von der Polizei kontrolliert und des Platzes verwiesen, weil sie offenbar Nazi-Parolen gebrüllt haben.

Das ist der einzige unschöne Zwischenfall. Ansonsten läuft alles ruhig und geordnet ab. Mit Räumungen haben sie in Dortmund inzwischen Übung. Erst im Mai mussten 1300 Menschen ihre Häuser verlassen, weil eine 250-Kilo-Bombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurde. Mitte August wurden zwei Blindgänger entschärft, da waren 2100 Dortmunder betroffen. Die Mieter aus dem "Hannibal"-Komplex können allerdings nicht so einfach wie die Bewohner des Blindgänger-Gebiets in ihre Wohnungen zurück. Im Notquartier heißt es, dass die Menschen auf keinen Fall in den kommenden Tagen zurückkehren dürfen. Möglicherweise dauert es sogar Wochen.

Was passiert in der Zwischenzeit?

"Es werden bedarfsgerechte Unterbringungen gefunden", verspricht Krisenstabsleiter Wilde. Das Sozialamt sagt, es habe etwa 50 Wohnungen "in Vorhalte". Darin könnten um die 150 Menschen untergebracht werden. Und die anderen 650? Die müssen sich wohl eine neue Bleibe suchen.

Das ist schwierig, vor allem, wenn das Jobcenter die Miete bezahlt. So wie bei Hosien Haydari. Er ist 26 Jahre alt und kam 2015 mit seiner Familie aus Afghanistan nach Deutschland. Er grinst verlegen, als er in der Halle von der Flucht über Pakistan, Iran, die Türkei und das Mittelmeer nach Griechenland erzählt. Haydari lebt seit knapp 15 Monaten in Dortmund. Deutsch hat er sich selbst über das Internet beigebracht. Er arbeitet als Fliesenleger, im Monat verdient er 1400 Euro netto. "Ich versuche schon seit Monaten, eine andere Wohnung zu finden, aber mit drei Kindern ist das schwer", sagt er. Nun hat er wieder kein Zuhause. "2015 kam ich in Ratingen an und lebte im Zelt - jetzt bin ich wieder in einem Lager."

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