Zwangsheirat:Immer mehr junge Frauen flüchten - vor der eigenen Familie

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Zwei Drittel der Frauen, die Hilfe bei "Wüstenrose" suchen, erleiden zuhause psychische und körperliche Gewalt. (Foto: dpa)
  • Viele junge Frauen müssen vor ihren eigenen Familien flüchten, da diese sie aufgrund ihres kulturellen Hintergrundes zu Zwangsheirat oder weiblicher Genitalbeschneidung zwingen wollen.
  • Bei "Wüstenrose", der Fachstelle Zwangsheirat des Vereins Imma, hat sich Zahl der Beratungsgespräche mit Betroffenen von 2013 bis 2015 verdoppelt.
  • Die Fachstelle berät auch andere soziale Dienste und leistet Aufklärungsarbeit an Schulen.

Von Sven Loerzer

Nur noch die Flucht blieb der jungen Frau als Ausweg, die Flucht aus ihrem Elternhaus in München. Denn die 22-jährige Kurdin wusste, was ihr bevorsteht, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat: Sie sollte einen Cousin heiraten, die Familie wollte es so. Um diesem Schicksal zu entgehen, das bereits ihre Schwester erlitten hatte, suchte die junge Frau Unterschlupf bei einer Freundin. Im Sozialbürgerhaus suchte sie dann Hilfe - und war eine der ersten Frauen, die 2013 an die neu eingerichtete Fachstelle Zwangsheirat des Vereins Imma vermittelt wurden. Deren Hilfe ermöglichte der jungen Frau, ihren eigenen Lebensweg zu gehen.

Dass von Zwangsheirat nicht wenige Mädchen und junge Frauen auch in München betroffen sind, hatte Imma, die Initiative für Münchner Mädchen, thematisiert. Eine Abfrage bei sozialen Beratungseinrichtungen hatte ergeben, dass sich im Laufe eines Jahres etwa 100 Betroffene bei verschiedenen Diensten gemeldet hatten. Gerade Schulsozialarbeiterinnen waren damit immer wieder konfrontiert, meist vor den Sommerferien. Beim Urlaub in der Heimat der Eltern droht Zwangsehe oder weibliche Beschneidung, beides schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen die hiesige Rechtsordnung.

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Um Betroffene davor zu bewahren, hat Imma mit Hilfe der Stadt im März 2013 die bayernweit erste auf Zwangsheirat und Gewalt "im Namen der Ehre" spezialisierte Fachstelle eingerichtet: Die "Wüstenrose" steht mit ihrem Namen sinnbildlich für Hoffnung und Leben unter schwierigen Bedingungen. Das Angebot hat sich bewährt, wie nun ein auf Antrag der Grünen/Rosa Liste dem Stadtrat vorgelegter Bericht des Sozialreferats zeigt: Von 2013 bis 2015 verdoppelte sich die Anzahl der persönlichen und telefonischen Beratungen von Betroffenen von 95 auf 187 pro Jahr. Sie benötigten zudem über einen längeren Zeitraum die Unterstützung der Fachstelle, weshalb die Zahl der Kontakte um fast das Dreifache von 511 auf 1878 anstieg.

Unter den Klienten waren im vergangenen Jahr auch fünf Jungen und junge Männer. Imma-Geschäftsführerin Sabine Wieninger führt deren geringe Zahl darauf zurück, dass es für Männer aus anderen Kulturen noch unüblich ist, sich Hilfe zu holen. Zudem unterliegt das Leben junger Männer kaum Beschränkungen, wie sie dagegen die jungen Frauen hinnehmen müssen.

Patriarchalische Familienstrukturen machten fast allen Frauen zu schaffen, die Hilfe suchten, genauso wie kulturbedingte Konflikte und psychische Gewalt. Zwei Drittel der Frauen erlebten körperliche Gewalt und Ängste. Die Familie drohte mit Ehrenmord und Verschleppung. "In solchen Fällen ist die Arbeit sehr zeitaufwendig", sagt Sabine Wieninger. "Wir müssen viel organisieren." Etwa einen Platz in einem Frauenhaus oder einer Hilfseinrichtung vermitteln.

Für die betroffenen Frauen ist das kein leichter Schritt: "Sie wollen ihre Familie nicht verlassen, aber auch den Cousin nicht heiraten." Eher selten ist es möglich, mit den Eltern zu reden, ihnen deutlich zu machen, dass sie ihre Tochter verlieren, wenn sie auf Verheiratung beharren. Neben der unmittelbaren Beratung von Betroffenen berät die mit zwei Vollzeitstellen ausgestattete Fachstelle aber auch andere soziale Dienste und setzt auf Aufklärungsarbeit an Schulen.

Inzwischen ist eine halbe Stelle für Beratung bei weiblicher Genitalbeschneidung dazugekommen. Die insgesamt auch in diesem Jahr weiter steigenden Fallzahlen bringen das Team an die Grenzen seiner Belastbarkeit. Die Grünen halten deshalb schon jetzt eine Aufstockung um eine halbe Stelle für erforderlich. Das Sozialreferat aber will zunächst nur die weitere Entwicklung beobachten.

Oft geht der Flucht aus der Familie ein langer Leidensweg voraus. Wie bei einer Frau, die unter ihrem autoritären Vater litt: "Er war militärisch genau und hat mich und meine Schwestern geschlagen." Etwa wenn das Bett nicht so gemacht war, wie er es gelernt hatte. Kurz vor dem Abitur hielt sie es nicht mehr aus. Eine Beratungsstelle, die sie aufsuchte, vermittelte sie an die Wüstenrose. Mit deren Beistand schaffte sie ihren Schulabschluss, obwohl der Vater keinen Unterhalt zahlte.

© SZ vom 22.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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