Konzert:Ganz ohne Ganz

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Der russisch-amerikanisch-deutsche Pianist Kirill Gerstein musste das Konzert in Iffeldorf allein bestreiten. (Foto: Leo Rohrsetzer/oh)

Pianist Kirill Gerstein begeistert in Iffeldorf

Von Reinhard Szyszka, Iffeldorf

Die anfängliche Enttäuschung war groß. Schauspiel-Star Bruno Ganz war durch eine Bronchitis außer Gefecht gesetzt und hatte seinen mit Spannung erwarteten Auftritt bei den Iffeldorfer Meisterkonzerten abgesagt. Viele Zuhörer waren natürlich eigens wegen Ganz nach Iffeldorf gekommen und erfuhren die Neuigkeit erst am Saaleingang. Dankenswerterweise hatten die Veranstalter das Konzert nicht komplett abgesagt, sondern ein Ersatzprogramm auf die Beine gestellt.

Der russisch-amerikanisch-deutsche Pianist Kirill Gerstein, ursprünglich als Klavierpartner von Bruno Ganz vorgesehen, hatte sich bereit erklärt, das Konzert alleine zu bestreiten. Ein reiner Klavierabend - das war es nicht, wofür die Besucher angereist waren. Dennoch gaben nur wenige ihre Eintrittskarten zurück; die meisten machten das Beste aus der Situation und blieben.

Die Ausgangslage war also denkbar ungünstig für Gerstein, und als er den Saal betrat, war die allgemeine Enttäuschung noch spürbar. Doch der Pianist ließ sich nicht irritieren und begann mit einer schwungvollen Interpretation von Robert Schumanns "Carnaval", eines Werks aus zahllosen kleinen Facetten, wechselnd zwischen lyrischer Empfindsamkeit, mächtigem Auftrumpfen und virtuosem Tastenzauber. Souverän gestaltete Gerstein die vielschichtige Partitur, glänzte mit rasanten Läufen und Arpeggien, lotete aber auch die musikalischen Tiefen des Werks aus. Als am Ende der Beifall aufbrandete, hatte der Pianist das Publikum für sich gewonnen.

Nach der Pause steigerten sich pianistische Virtuosität und romantische Emphase nochmals bei den zwölf "Études d'exécution transcendente" von Franz Liszt. Wer sich unter diesen "Etüden" simple, monoton wiederholte Übungsstückchen vorgestellt hatte, sah sich auf das Angenehmste überrascht: Liszt wartet mit einer schier unerschöpflichen Fantasie an Klangfarben und Klaviereffekten auf. Gerstein wurde allen Nuancen der Musik gerecht, meisterte die halsbrecherischen Sprünge bei "Mazeppa" ebenso wie die sanften Klänge der "Ricordanza". Beim vorletzten Stück "Harmonies du soir" ("Abendharmonien") verschmolz die Musik mit der draußen hereinbrechenden Nacht zu einem Gesamtkunstwerk.

"Eigentlich hat man Bruno Ganz gar nicht vermisst", meinten einige Zuhörer zum Schluss. Auch wenn das übertrieben sein mag: Es zeigt, dass es dem Pianisten gelungen war, die Enttäuschung in rückhaltlose Begeisterung zu verwandeln.

© SZ vom 23.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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