Eine Welt im Maßstab 1:87:Endstation

Lesezeit: 4 min

Christoph von Reitzenstein konnte nie verstehen, warum jemand allein im Keller mit einer Modelleisenbahn spielen sollte. In einem ehemaligen Bauernhof erschuf er deshalb nicht nur einen Ort zum Spielen, sondern auch einen Ort der Begegnung. (Foto: Manfred Neubauer)

Christoph von Reitzenstein gibt nach 14 Jahren seine Modelleisenbahn auf, die Großweil überregional bekannt gemacht hat. Die Anlage mit 180 Metern Gleisen geht nun an einen Unternehmer in der Schweiz.

Von Julian Erbersdobler, Großweil

Christoph von Reitzenstein ist jetzt 83 Jahre alt und hat noch immer keine Antwort auf eine Frage, die ihn schon ewig begleitet. "Vielleicht ist es der gerade Weg mit Parallelen, die sich erst im Unendlichen schneiden", sagt er. "Oder die Weichen. Es bleibt einem selbst überlassen, wie man sie stellt." Was fasziniert ihn an Eisenbahnen? Von Reitzenstein nimmt ein Gleis in die Hand, das vor ihm auf dem Tisch liegt. Er dreht die Schienen langsam hin und her wie eine neue, teure Uhr. Dann zeigt er auf einen Zettel an der Eingangstür seines kleinen Betriebs. "Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt", steht da. Schiller. Obwohl Christoph von Reitzenstein den Satz großartig findet, hängt er das Zitat bald ab.

Nach 14 Jahren hat er seine Modelleisenbahn an einen Schweizer Unternehmer verkauft, der sie zerlegen, einpacken und zwischen Zürich und Bern wieder aufbauen wird. "Der Mann ist genau der, den ich seit drei Jahren gesucht habe", sagt er und strahlt. Von Reitzenstein sitzt in Hemd und Hausschuhen in einem weichen Sessel im Vorraum seiner Modellbahn in Großweil. Manchmal ist er mitten in der Nacht aufgewacht, erzählt er, aus Sorge, keinen Käufer zu finden. Der Rentner tut so, als würde er sich verbeugen, und deutet mit der rechten Hand auf einige Schrammen auf seinem Kopf. Wunden, die beim Reparieren der 36 Quadratmeter großen Anlage entstanden sind. "Ich werde der Bahn nicht nachtrauern."

Rund um die Eisenbahn erschuf er einen Mikrokosmos voller Details

An Weihnachten 2003 eröffnete der pensionierte Musiker seine Miniatur-Welt. "Ich habe nie verstanden, dass jemand eine Eisenbahn im Keller hat und nur alleine damit spielt." Ihm ging es darum, sagt er, Menschen zusammenzubringen, Brüder mit Schwestern, Eltern mit Kindern, Großeltern mit Enkeln, auch Männer und Frauen. Manchmal kamen Urlauber vorbei, die auf der Durchreise waren und sich von der weißen Werbetafel an der Straße anlocken ließen: "Keine Eisenbahn daheim? Hier kannst du spielen!" Von Reitzenstein erzählt, dass viele Männer schon nach ein paar Minuten wieder zu ihren Frauen ins Auto mussten, um den Urlaub nicht in Gefahr zu bringen. Wer dem Rentner länger zuhört, merkt, dass ihn das Thema beschäftigt. Immer wieder wurde er als abnormal, anders oder kindisch bezeichnet, weil er eine Modelleisenbahn hat. Er sagt: "Würden uns die Frauen doch mehr spielen lassen im Leben, dann wären wir die Liebsten." Männer blieben nun mal bis ins hohe Alter Kinder.

Von Reitzensteins erste Ehe ist in die Brüche gegangen. Seit einigen Jahren steht Heidi an seiner Seite, seine zweite Frau. Ihre Ideen für die Gestaltung der Landschaft haben die Modellbahn vollendet, sagt er. "Stimmt's, Heidilein?" Heidi nickt und stapelt weiter Steckdosen, LED-Röhren und Kabel in Kartons. An der Wand vor ihr hängt ein Kalender mit Eisenbahnen. Auf der Mikrowelle liegt eine Tiefkühlpizza. Weil noch viel zu erledigen ist, schlafen die beiden an diesem Novembertag hier im Haus, das mal ein Bauernhof war.

Wo früher Kühe standen, hat Christoph von Reitzenstein 180 Meter Gleis verbaut, drei Kreise und ein Oval. Grundlage ist eine H0-Anlage von Fleischmann, die mit Gleichstrom funktioniert. Rund herum erschuf er mit seiner Frau eine Welt im Maßstab 1:87. Ein Mikrokosmos voller Details: Fachwerkhäuser, Fichten, Kirchen, Brücken, Gebirge, Tunnel, Wanderer, Postboten, ICEs, Autos, Helikopter, Hunde. Von Reitzenstein schätzt, dass er um die 60 000 Euro in seine Modellbahn investiert hat, reine Materialkosten. Seine Loks sind nicht einfach nur im Kreis gefahren: Einige konnten ihre Bügel ausfahren wie Antennen. Manche klappten die winzigen Türen der Reihe nach auf und dann wieder zu. Andere haben gepfiffen, wenn sie durch einen Tunnel gefahren sind. Wenn Christoph von Reitzenstein die Fähigkeiten seiner Züge aufzählt, klingt er wie ein Großvater, der von seinem Enkel schwärmt.

"Wegen Ihnen weiß man, wo Großweil liegt", soll der Bürgermeister gesagt haben

Die Modellbahn war so etwas wie sein zweites Wohnzimmer. Bevor Besucher zu den Loks durften, mussten sie ihre Straßenschuhe gegen Schlappen tauschen. "Manche haben sauber ihre Schuhe abgelegt, andere haben sie einfach weggeworfen, auch die Eltern", sagt der Pensionär. Man habe schon an der Tür gemerkt, wie sie ihre Kinder erziehen. Viele Geschichten reißt er an, bis er den Faden verliert. Dann hilft Heidi aus. Mit der Zeit sei ihm alles einfach zu viel geworden, die Kinder, das Geschrei, der Aufwand, so von Reitzenstein, der in einem Schloss in Oberschlesien aufgewachsen ist. Seine erste Modellbahn bekam er an seinem zehnten Geburtstag, kurz vor Weihnachten 1944. "Ich war überglücklich, die beleuchtete Eisenbahn unter dem Bett aufbauen zu dürfen und vor dem Einschlafen noch zu spielen."

Drei Wochen später musste die Familie fliehen. Von Reitzenstein ließ die geliebte Bahn zurück und nahm zwei Geigen mit. So wollte es seine Mutter. Geigespielen brachte ihm ein verwundeter Soldat bei, ein Mann mit Oberarmdurchschuss. Später studierte Christoph von Reitzenstein Musik in München und arbeitete fast 20 Jahre als freier Musiker an der Staatsoper. "Erst als sich meine beiden Söhne eine Eisenbahn wünschten, hat mich das Virus wieder gepackt", sagt er. "Sie haben in mir etwas geweckt, was jahrzehntelang verkümmert war." Dass er mit seiner Modellbahn in den 14 Jahren in Großweil vielen anderen Menschen eine Freude machen konnte, sei ein schönes Gefühl. Was bleibt, wenn die Bahn geht? An seinem 80. Geburtstag, erzählt von Reitzenstein, klingelte der Bürgermeister und schenkte ihm einen Fresskorb. "Wegen Ihnen weiß man, wo Großweil liegt", soll er gesagt haben.

Auch wenn von Reitzenstein seine große Modelleisenbahn verkauft hat, hat der 83-Jährige noch zahlreiche Einzelteile in Großweil. Die kann man dort bei einem Flohmarkt erwerben - und zwar an jedem Wochentag zwischen 14 und 18 Uhr in den ehemaligen Räumen der Großweiler Modellbahn in der Kochler Straße 12. Unter Telefon 08851/817 kann man bei ihm auch zusätzliche Termine vereinbaren.

© SZ vom 11.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: