Wohnungsmarkt:Wenn die Wohnungslosigkeit das Abitur gefährdet

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Für 450 Wohnungen beworben: Gefunden hat Samuel Baumann aber noch keine. (Foto: Stephan Rumpf)

Die Schüler Samuel Baumann und Martha Shafiga Aliyeva leben im Obdachlosenheim und in einer Mutter-Kind-Einrichtung. Sich dort auf den Schulabschluss vorzubereiten, ist schwer.

Von Lisa Settari

Das vergangene Schuljahr hat Samuel Baumann am Ende noch einiges abverlangt. Nicht, weil er so viel zu lernen gehabt hätte, sondern wegen der Bedingungen, unter denen er lernen musste. Anders als die meisten Schüler in München kann Samuel Baumann nach der Schule nicht einfach heim in sein Zimmer gehen, die Tür hinter sich schließen, sich an den Schreibtisch setzen und lernen. Das Zuhause des Elftklässlers ist ein Zweibettzimmer in einem Obdachlosenheim.

Schüler wie Baumann und auch Martha Shafiga Aliyeva, deren Lebensweg alles andere als einfach verlief, bringt der Wohnungsmarkt in München in eine besonders prekäre Lage. Beide sind Anfang zwanzig, lebten jahrelang in Heimen und hatten nicht den besten Start in ihr Leben als Erwachsene. Trotzdem haben sie gerade die elfte Klasse der Rainer-Werner-Fassbinder-Fachoberschule für Sozialwesen absolviert und sind fest entschlossen, auch die zwölfte Klasse und das Abitur zu schaffen.

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Doch auch für das kommende Schuljahr haben sie keine angemessene Bleibe in Aussicht, keinen Ort, an dem sie ungestört lernen können - was die bisherigen Schulerfolge gefährdet. Wegen einer Änderung im Lehrplan müssen alle, die nächstes Jahr die zwölfte Klasse nicht bestehen, nicht nur diese wiederholen, sondern zusätzlich die elfte. Das vergangene Schuljahr wäre also verloren, all das Lernen und auch die Praktika im sozialen Bereich, für die Aliyeva und Baumann übrigens ausgezeichnete Bewertungen erhalten haben.

Bis vor kurzem hatte Samuel Baumann noch ein Zimmer zur Untermiete, ein gutes Jahr lang konnte er sich an seine neue Schule gewöhnen, sich aufs Lernen konzentrieren. Doch dann musste er im Juni das Zimmer verlassen. Und, weil er nichts anderes fand, in eine städtische Einrichtung für Obdachlose in der Tegernseer Landstraße ziehen. Mit seinem Zimmergenossen versteht er sich gut, und weit zur Schule ist es nicht. Aber längerfristig hier zu leben? Das will er sich lieber nicht vorstellen. Zu zweit auf zwölf Quadratmetern, das sei schon eine Herausforderung.

Der ständige Lärmpegel im Heim, immer wieder Einsätze der Polizei, Schimmel an der Wand und hygienische Probleme im Bad - das sei einfach kein Ort zum Leben und Lernen, findet Baumann. Die Küche? "Da sind zwei Herdplatten, und man muss einfach improvisieren. Aber wir haben einen Kühlschrank, da kann man sich wenigstens einteilen, was man die Woche über kocht." Im Zimmer sei ein Tisch, aber: "Ich kann höchstens im Bett lesen. Normalerweise suche ich mir andere Spots, und gehe in die Caféteria in der Schule oder in eine Bibliothek zum Lernen."

Per Internet hat Baumann sich für 450 Wohnungen beworben, ohne Erfolg. Er begann, Zettel aufzuhängen, an Straßenlaternen und anderswo. Obwohl das mehr Rückmeldungen einbrachte, früher oder später war immer von "anderweitiger Nutzung" die Rede. Niemand wolle gerne an Sozialhilfebezieher vermieten, vermutet Baumann, vor allem, wenn die auch noch zur Schule gehen. Dabei sind die 640 Euro, die er als Hartz-IV-Empfänger für Kaltmiete zur Verfügung hat, vom Jobcenter gesichert. Ein Vermieter müsste sich keine Sorgen um ausstehende Mieten machen.

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Vielleicht liege es ja auch daran, dass potenzielle Vermieter Probleme mit einem jungen Schüler wie ihm befürchten: "Viele denken sicher gleich, jung heißt unzuverlässig und Remmidemmi." Sein einziger Anspruch an eine Wohnung sei mittlerweile, "dass es eine Wohnung ist". Ein Zuhause, in dem er langfristig bleiben kann, auch für ein anschließendes Studium. Natürlich wäre ein Balkon schön und etwas in Giesing praktisch, entscheidend sei das aber nicht.

Im Fall von Martha Aliyeva kommt neben dem Umstand, dass sie Sozialleistungen bezieht und Schülerin ist, noch ein weiteres "Hindernis" dazu: Sie hat einen zweijährigen Sohn. Beide leben in einer Mutter-Kind-Einrichtung, die sie aber Ende August verlassen müssen. Hier werden junge Mütter unterstützt, deren Lage als nicht stabil gilt - eigentlich nur über einen Zeitraum von zwei Jahren. Martha Aliyeva ist schon seit Dezember 2014 mit ihrem Sohn Malik in der Einrichtung.

Sie hat sich inzwischen ein ziemlich stabiles Leben aufgebaut, das sich um den Schulbesuch dreht, um Praktika und natürlich um Malik. Morgens braucht sie eine gute Stunde, um von zuhause über Maliks Krippe zu ihrer Schule zu kommen. "Das war oft eine Herausforderung, aber die Schule macht mir auch viel Spaß, weil mich das Lernen fordert", erzählt die 22-Jährige stolz.

Wenn Aliyeva keine neue Bleibe findet, muss sie mit Malik in eine städtische Pension ziehen. Genau davor hat sie Angst, weil sie weiß, sie und Malik müssten sich dann ein Zimmer teilen. Aber dann könnte Martha Aliyeva unmöglich lernen. "Sobald Malik merkt, dass ich im gleichen Raum bin, will er meine Aufmerksamkeit. Ich könnte ihn auch nicht ins Bett bringen und mich dann im gleichen Raum mit den Büchern an den Tisch setzen, er würde kein Auge zumachen", berichtet sie. Das ist momentan ihre größte Sorge: "Während meines letzten Praktikums ist das aufgefallen, weil ich oft nachdenklich gewirkt habe." Aliyeva wünscht sich nichts mehr, als ihrem Sohn ein behütetes Zuhause bieten zu können, wo er sich entfalten kann. Und das vereinbaren zu können mit ihrem Schulbesuch und, nach dem Abitur, mit einer Ausbildung zur Immobilienkauffrau.

Monatelang hat Aliyeva mit der Sowon-App der Stadt nach einer Sozialwohnung gesucht, aber lediglich Angebote für Appartements unter 45 Quadratmetern bekommen, ohne Rückzugsmöglichkeit zum Lernen. Auf dem privaten Wohnungsmarkt trifft sie auf ähnliche Probleme wie Samuel Baumann. Obwohl auch sie von ihren Sozialleistungen eine Wohnung für 850 Euro warm finanzieren könnte. Einmal, erzählt sie, hätte sie fast eine Wohnung bekommen, perfekte Größe, perfekte Lage. Bis die Vermieterin von Aliyevas Sohn hörte, und sagte, die Wohnung sei für zwei Menschen zu klein.

Claudia Herdieckerhoff, die Aliyeva und Baumann an der Rainer-Werner-Fassbinder-Fachoberschule als Sozialarbeiterin unterstützt, hält die Befürchtungen potenzieller Vermieter für unbegründet. Beide suchten "keinen Gnadentäter, sondern einfach eine Wohnung". Fälle von Schülern mit Geldsorgen und resultierender Wohnungsnot kennt Herdieckerhoff zur Genüge. Hier handle es sich aber immerhin um Schüler, die vom Jugendamt unterstützt werden, was nicht die Regel sei. Martha Aliyeva und Samuel Baumann hoffen jetzt, dass sie noch in den Sommerferien umziehen können, um mit einer großen Sorge weniger in die zwölfte Klasse zu starten.

© SZ vom 30.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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