Frauenbewegung 1968:"Was wir heute als selbstverständlich erachten, wurde damals erstritten"

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Mit blankem Busen provozierten Studentinnen im Gerichtssaal die Justizvertreter. Zu Beginn der Frauenbewegung war jedes dieser Happenings ein revolutionärer Akt. (Foto: dpa)

Elisabeth Zellmer hat sich als eine der ersten Historikerinnen mit der 1968er-Generation aus weiblicher Sicht befasst - und wurde so zur Feministin.

Von Martina Scherf

"Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern sind erkennbar gestört wie nie zuvor." Ein Satz aus #MeToo 2018? Nein, vielmehr eine Schlagzeile aus der Silvesterausgabe 1974 der Süddeutschen Zeitung. Sie markierte den Höhepunkt der Frauenrevolte - und die war eine direkte Folge der 68er-Bewegung, sagt die Historikerin Elisabeth Zellmer. "Nur wenige gesellschaftliche Einflüsse haben den Alltag, die Familie und zum Teil auch die Arbeitswelt so nachhaltig verändert wie die damals entstandene Frauenbewegung."

Höchste Zeit also für einen Wechsel der Perspektive. Die Erzählung der 68er war bisher ja eine Erzählung der Männer - die schöne Uschi Obermaier mal ausgenommen, die alle paar Jahre für ein Interview aus Kalifornien einschwebt. Vor allem aber vermarkteten die Veteranen der Bewegung - Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Rainer Langhans - sich und ihre Erinnerungen. Elisabeth Zellmer war eine der ersten Historikerinnen, die sich mit dem Thema aus weiblicher Sicht befassten. In ihrem 2010 erschienen Buch "Töchter der Revolte" hat sie die Frauenbewegung der Siebzigerjahre in München untersucht.

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Zellmer, 40 Jahre alt, sitzt an diesem kalten Februartag im Wintergarten ihres Instituts an der TU München - dort wird zu Technologie und Gesellschaft geforscht -, schaut auf den bunten Osterstrauß, den sie aus ihrer niederbayerischen Heimat mitgebracht hat, und sagt: "Ich hätte mich früher sicher nicht als Feministin bezeichnet. Erst während der Arbeit an diesem Buch habe ich so richtig begriffen, was der Satz bedeutet: Das Private ist politisch."

Es war ein Standardsatz der 68er. Und seine Bedeutung, sagt Zellmer, wird nirgends so konkret, wie wenn es um den weiblichen Körper geht. "Die sogenannte sexuelle Befreiung bedeutete vor allem für die Männer, dass sie sich nehmen konnten, was sie wollten." Das habe sie bei ihren Recherchen immer wieder gehört. Die Frauen wollten aber nicht länger "Girlanden der Revolte" sein, "Bräute" oder "hübsche Barrikaden-Zähne", wie eine Zeitung schrieb, sie forderten die gleiche Präsenz im öffentlichen Raum. Mit plakativen Aktionen, indem sie vor Gericht aus Protest ihren blanken Busen zeigten oder demonstrativ ihre Bikinis in den Müll warfen, Miniröcke trugen oder später, als der Minirock Mainstream wurde, lila Latzhosen.

Aus heutiger Sicht erscheint es kurios, damals war es ein Skandal: Am 14. Oktober 1970 trat die SPD-Bundestagsabgeordnete Lenelotte von Bothmer in einem Hosenanzug ans Rednerpult des Bonner Bundestags - genau das hatte ihr dessen Vizepräsident Richard Jaeger (CSU) zuvor verboten. "Die rote Lotte" erhielt eine Flut von anonymen Schmähungen.

Der Grundgesetzartikel 3 "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" - der war noch sehr lange nur bedrucktes Papier. "In den Familien hatten die Väter das letzte Wort", sagt Zellmer, "und sie konnten sich dabei auf Recht und Gesetz berufen." Erst nach 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen, und bis 1977 brauchte sie in der Bundesrepublik - in der DDR waren Frauen längst gleichberechtigt - die Erlaubnis ihres Mannes, wenn sie einen Arbeitsvertrag unterzeichnen wollte. Umgekehrt galt eine Art "Zölibatsklausel": Eine Frau, die heiratete, konnte entlassen werden, was kirchliche und staatliche Arbeitgeber auch durchaus praktizierten. "Heim, Herd und Beruf, das war im öffentlichen Bild für Frauen nicht vereinbar", sagt Zellmer, "das Familienrecht wurde erst mit der sozialliberalen Koalition allmählich reformiert." Welchen gewaltigen Umbruch die Revolte gegen die Diskriminierung bedeutete, dokumentiert Zellmer in ihrem akribisch recherchierten Buch: 1970 wurden 40 Prozent der Ehen in München geschieden, und in drei Viertel der Fälle reichten die Frauen die Scheidung ein.

Als 1971 der Stern-Titel erschien, auf dem sich 374 Frauen - darunter Prominente wie Senta Berger oder Romy Schneider - zur Abtreibung bekannten, ging eine Welle der Entrüstung durchs Land. Aber die Wirkung war gewaltig. "Mein Bauch gehört mir", mit dieser Parole kämpfte auch in München eine "Sozialistische Arbeitsgruppe zur Befreiung der Frau" gegen den Paragrafen 218.

Frauengesundheitszentren entstanden, ein "Abtreibungsatlas" erschien. "Der war ein Skandal, heute wäre es ein banales Aufklärungsbuch, das die medizinischen Grundbegriffe des weiblichen Körpers erläutert", sagt Zellmer. "Man muss sich das vorstellen: Es gab bis dahin keine Orte, an denen Frauen über solche Themen sprechen konnten." Heftigst gestritten wurde auch über den Sexualkundeatlas für Schulen, den Bundesgesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) 1969 vorstellte. Bayern weigerte sich zunächst, ihn einzusetzen. Dabei war es die Zeit, in der Oswalt Kolle seine Aufklärungsfilme sendete, die Bravo ihren Report "Jugend und Sex '68" veröffentlicht hatte und Dr. Sommer Teenagerfragen beantwortete wie: Bekommt man vom Onanieren Pickel?

München, 13.3.2018 / Foto: Robert Haas Thema: Die TU-Wissenschaftlerin Elisabeth Zellmer (Foto: Robert Haas)

Die Pille war erfunden, aber längst nicht frei verfügbar. Während Papst Paul VI. 1968 in seiner Enzyklika Humanae Vitae - sie gilt bis heute - selbst Eheleuten künstliche Empfängnisverhütung untersagte, gab das Sozialreferat der Studentenvertretung der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) Adressen von Ärzten weiter, die die Pille "auch unverheirateten Studentinnen" verschrieben. Sexuelle Gewalt war ein gesellschaftliches Tabu, "Frauenhäuser, Frauennotrufe, das alles entstand erst in der Folge der 68er-Bewegung", sagt Zellmer, "und dann hat es noch einmal 30 Jahre gedauert, bis Vergewaltigung in der Ehe als Straftat anerkannt wurde." Erst 1997 trat das Gesetz in Kraft - im Bundestag angenommen mit 470 zu 138 Stimmen bei 35 Enthaltungen. Davor wirkte ein Trauschein wie ein Freibrief für sexuelle Willkür.

Frauen gründeten Wohngemeinschaften und Kinderläden, aus dem einfachen Grund, weil sie studieren und arbeiten wollten. Nach diversen Sit-ins mit Kindern und Farbeimern in der Aula der LMU wurde 1968 der Uni-Kindergarten hinter der Mensa in der Leopoldstraße eröffnet, eine der ersten Elterninitiativen der Stadt. Und wenn von antiautoritärer Erziehung die Rede war, wurde vergessen, dass bis 1973 noch die Prügelstrafe erlaubt und an der Tagesordnung war.

Gewerkschafterinnen und Betriebsgemeinschaften wie die Siemens-Frauengruppe kämpften um gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Kulturprojekte entstanden wie der linke Trikont-Verlag. Dessen Mitbegründerin, die Soziologiestudentin Gisela Erler, gründete wenig später den Verlag "Frauenoffensive". Später organisierte sie ein Tagesmütter-Projekt, das vom Bund gefördert wurde, heute ist sie Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung in der Landesregierung von Baden-Württemberg. Einer von vielen beispielhaften Lebensläufen.

Mit Plakaten gegen den Paragrafen 218 empfingen Frauen Bundesjustizminister Gerhard Jahn (links) 1971 in München. Elisabeth Zellmer sagt, "das Frauenthema ließ mich nicht mehr los". (Foto: Dpa)

1975 eröffneten eine Buchhändlerin, eine Grafikerin, eine Hausfrau und drei Studentinnen in der Münchner Maxvorstadt "Lillemors Frauenbuchladen". Er hat alle Moden und Gentrifizierungen überstanden und existiert noch immer, umgezogen in die Barerstraße 70.

"Alles, was wir heute als selbstverständlich erachten, wurde damals erstritten", sagt Elisabeth Zellmer. Draußen fallen dicke Schneeflocken vom Himmel. Die Historikerin schaut auf die Uhr. Sie muss gleich ihre Tochter aus der Kita holen. "Ich bin glücklich, dass ich Vollzeit arbeiten kann, dass wir einen Kindergartenplatz haben und dass mein Mann und ich uns die familiären Pflichten teilen, ohne dass es einer Diskussion bedarf", sagt sie. "Aber Vorurteile, man brächte im Beruf nicht mehr 100 Prozent Leistung, wenn man Kinder kriegt, gibt es immer noch, gerade in der Wissenschaft." Und bis heute müsse sie die Frauen in ihren Seminaren ermutigen, das Wort zu erheben. "Frauen sagen häufig: Ich bin doch nicht so wichtig."

Sie selbst ließ das Thema seit ihrer Promotion am Institut für Zeitgeschichte nicht mehr los. "Je mehr ich mich da rein arbeitete, desto mehr fing ich Feuer." Und als die kleine Franziska geboren war, "da kaufte ich ihr einen kleinen Drachen für den Kinderwagen und dachte für mich: Schau, du musst nicht mehr auf den Prinzen warten, du kannst selber Zähne zeigen."

© SZ vom 24.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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