Vom Meer nach München:Visite beim Doktorfisch

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Frank Müller, Kurator der Aquarien im Tierpark Hellabrunn, überwacht eine faszinierende und fein austarierte Unterwasserwelt, die leicht aus den Fugen geraten kann - und er erklärt, warum sich der schussgewaltige Tintenfisch selbst töten könnte, wenn er fotografiert wird

Von Philipp Crone

Frank Müller sieht nur für eine Sekunde auf das 70 000 Liter-Becken und sagt: "Alles in Ordnung." Ja? Licht, ph-Wert, Kalzium-, Jod- und Nitrat-Gehalt, Sauberkeit, Strömung? Korallen und Fischen geht es gut? Ein tiefblauer Doktorfisch schwimmt vorbei, die gelbe Schwanzflosse ruhig, mit einem Schlag der Seitenflosse in einer Sekunde. "Das ist ein Blick: Die Fische schwimmen im richtigen Tempo, die Korallen sind offen, haben die richtige Farbe, also ist alles gut." Wäre zu viel Jod im Wasser, würde sich die Korallenspitze dunkel färben, so ist sie weiß, das spricht für ein gutes Wachstum. Einen Zentimeter schaffen die Pocillopora-Korallen im Monat. Sagt Frank Müller, 58 Jahre alt, Kurator der Aquarien in Hellabrunn und optisch eine fröhliche Version von Werner Herzog, von der Statur her ähnlich stattlich.

Müller wiegt 96 Kilogramm, eine Information, die normalerweise in einem Porträt überhaupt nicht von Belang ist, es sei denn, es geht um einen Schwergewichtsboxer. Müller ist, kaum überraschend, passionierter Taucher, kein Boxer, aber sein Gewicht wird noch wichtig.

"Es muss nur ein Kupferstück von einer falsch eingesetzten oder gebauten Pumpe ins Wasser fallen und dort liegen bleiben, dann wäre das tödlich für das Becken." Die fein austarierte Unterwasserwelt, mit Computern und Sensoren überwacht und in jahrelanger Arbeit so einzigartig aufgebaut, dass Kollegen aus anderen Zoos regelmäßig zu Gast sind und sich Müllers Ideen und Errungenschaften erklären lassen.

"Haben wir", sagt Müller in sein Telefon mit leicht französischem Akzent. Der kommt daher, dass der Mann in Tunesien geboren und aufgewachsen ist. Müller ist eigentlich immer erreichbar, manche Alarmfunktionen der Becken gehen direkt auf sein Handy. Als neulich der Strom ausfiel, hatten er und seine Kollegen, die Aquarianer, wie er sich nennt, richtig zu tun. "Die Terrarianer haben da nicht so viele Probleme." Sagt er, lacht kurz und zuckt mit den Schultern. "Man muss schon ein bisschen spinnen in diesem Job." Aquarianer leben auf ihrem eigenen Planeten.

15 Kinder, die Müller bis zur Hüfte reichen und derart knallgelbe Westen anhaben, dass der Doktorfisch ganz neidisch werden könnte, fluten den Raum und einer ruft: "Sind die ehecht?" Einer klopft an die Scheibe, die Lehrerin ermahnt ihn, das nicht zu tun. Müller lacht wieder. "Die meisten Tiere sind bei uns erst einmal in einem Trainingslager, bevor sie von den Besuchern gesehen werden." Aber eigentlich seien die meisten Tiere eher unempfindlich, wenn sie an Foto-Blitz und Klopfen gewöhnt seien. "Nur Seepferdchen und Sepia-Tintenfische sind da in Gefahr." Der Tintenfisch würde sich vor Schreck selbst töten, weil er ruckartig zurückschießen würde und "dabei die Rückenplatte bricht".

Die grellgelben Kinder sind schnell ein Becken weiter, beim Aqua-Terrarium, genannt Paludarium, in dem die selbst gebaute Brandung an Strand und Glaswand kracht. Mit einer 500-Liter-Wanne, die immer mal wieder, wenn sie voll ist, umkippt, entsteht die Brandung. Statisch ist das hier höchste Zoo-Kunst, weil es immer gleich um große Kräfte und Gewicht geht. "Wenn ich mir für Zuhause ein Aquarium mit 50 Zentimeter Kantenlänge kaufe, habe ich mit Wasser und dem ganzen Kies und den Steinen schon ein Gewicht von etwa 350 Kilo." Müller zeigt auf einen handtellergroßen weißen Fisch mit schwarzen Flecken. "Das ist unser Mathematikgenie."

Das Genie heißt im Deutschen Schützenfisch und hat den Namen, weil es ein extrem präziser Schütze ist. "Der berechnet unter Wasser mit der Brechung des Lichts durch das Wasser, wie er einen Wasserstrahl schießen muss, um ein Insekt, das auf einem Ast über dem Wasser sitzt, erstens zu treffen", sagt Müller, "und dann schwimmt er sofort nach dem Schuss los an die Stelle, an dem das Insekt ins Wasser fällt." Zunge und Gaumen formten ein Rohr, damit würde der Fisch sogar eine Beute treffen, die unter dem Dach der Menschenaffen-Halle sitzt, in der Korallen und Gorillas nebeneinander leben, "in mehr als fünf Metern Höhe".

Wieder ein paar Meter weiter liegt eine Anakonda regungslos im Wasser. Deren Beute steht mit einem Gewicht von 96 Kilo auf der anderen Seite der Wand. "Da gehen wir nur zu zweit rein", sagt Müller. "Alleine hast du keine Chance, die ist extrem aggressiv, beißt zu und wickelt einen ein." 200 Kilo wiegt die Anakonda und ist sechs Meter lang. Der Zweite könne den Eingewickelten dann wieder auswickeln.

Müller braucht nur einen Blick auf seinem Rundgang pro Becken. Er könnte allerdings bei jedem Becken tagelang stehen und die Geschichten der Bewohner referieren, von den Pflanzen über den unterforderten Oktopus bis zum hochgiftigen Steinfisch. Aber damit die Tiere hier nicht nur überleben, sondern sich nach menschlichem Ermessen auch wohl fühlen, dafür verbringt Müller dann doch die meisten Zeit nicht vor den Becken, sondern in seinen Labors und dem Maschinenraum dahinter. Unten in der Aquariumswelt zieht er eine gut getarnte Seitentüre auf, dahinter stehen auf zwei Seiten eines mit Neonlicht erhellten weißgefliesten Raumes Aquarien, wie man sie aus Zoohandlungen kennt. Hier wird gezüchtet und experimentiert. Zum Beispiel Aurelia aurita, die Ohrenqualle. "Die leben nicht so lange, die müssen wir also permanent nachzüchten", erklärt er. Deshalb gibt Müller in eines der bierkastengroßen Becken mit den dort auf Steinen sitzenden Korallen mit einer Spritze eine Nährlösung aus Hefe- und Zuckerextrakt hinzu. Die Polypen wachsen, und um sie später in die nächste Phase des Lebenszyklus zu bringen, gibt Müller Jod ins Wasser. Die Polypen strobilieren, wie das Aquarianer wie Müller nennen, werden zu Ephyren und dann zu Quallen.

Auch die Steinkorallen werden kontinuierlich gezüchtet, das vor vier Jahren eingeweihte große Hai-Becken hat zum Beispiel nur Hellabrunn-Korallen, Handaufzucht, könnte man sagen. In einem der Becken schwimmt ein Clownfisch auf einmal ganz aufgeregt hin und her, als Müller sich nähert. "Der weiß, dass er etwas zu fressen kriegt."

Hat der Fisch etwa Frank Müller erkannt? Lächeln. "Sozusagen."

Bis hierhin ist das der normale Weg, den Müller jeden Morgen geht. An allen Becken vorbei, dann die Polypen und Steinkorallen füttern, und von dort einen Raum weiter, den Gang hinter den Becken einmal rund um das Aquariums-Untergeschoss rum. In einem blau beleuchteten Becken in der Mitte der Wasserwelt zirkulieren die Ohrenquallen in einem Wasserkreislauf, der durch Dutzende von Computer gesteuerte Pumpen geregelt wird. Die Tiere dürfen nicht an den Boden oder an eine der Scheiben kommen. "Da würden sich schnell Bakterien festsetzen und sie umbringen", sagt Müller. Zu 97 Prozent bestehen Quallen aus Wasser. "Einer der schlimmsten Feinde ist die Luft", sagt der 96-Kilo-Mann. "Eine Sauerstoff-Perle würde sich sofort durch den Körper durchfressen."

Neben Müller stehen zwei Pärchen und beobachten die sich kaum bewegenden Quallen in dunkelblauem Licht. Was für eine Faszination ist das, diese Wasserwelt? Müller hat schon oft erlebt, dass Besucher ihre brüllenden Kleinkinder einfach auf eines der Becken schauen lassen, und im nächsten Moment ist Ruhe. Ein Zauber, der jeden erfasst, selbst diejenigen, die noch längst nicht wissen, was ein Schwarspitzenriffhai ist.

"In Zahnarztpraxen haben die Aquarien ja nachgewiesenermaßen beruhigende Wirkung", sagt Müller. Er selbst ist in Tunesien direkt am Wasser groß geworden. Sein Vater war Zoologe und arbeitete zunächst bei Tunis Air, ehe er den dortigen Tierpark aufbaute. Erst als Müller 19 Jahre alt war, kam die Familie nach Deutschland, da habe er erst Deutsch gelernt. Er lebte bei der Oma in Fürstenfeldbruck, ging zur Bundeswehr, und machte sich dann selbstständig mit einer Zoohandlung in Krailling. "Als Kind haben wir unser Aquarium immer mit den Fängen aus dem Meer gefüllt." Müller hat aus zwei Ehen insgesamt fünf Kinder, von denen der 25-jährige Florian daheim in Krailling auch Becken betreibt. "Der ist genau so ein Freak wie ich", sagt der Vater.

Er schaut einen Moment auf die Ohrenquallen, dann auf das Becken an der Stirnseite des Untergeschosses, wo die beiden Schwarzspitzenriffhaie kreisen. "Es ist eine unglaubliche Ruhe, die man da erfährt. Das hat was von: ins Kaminfeuer reinschauen." Da sei zum Beispiel das Licht, ruhig und blau, schöne und angenehme Farben, "nichts Grelles". Und alle Tiere bewegen sich auch mit einer langsamen Kontinuität.

Vor den Becken von Frank Müller entsteht das in seiner stärksten Form, was der Besucher überall im Tierpark erlebt und was Zoo-Chef Rasem Baban so beschreibt: Ich sehe hier ganz häufig Menschen, ob alt oder jung, die plötzlich stehen bleiben und zum ersten Mal all ihre Sinne einschalten." Ganze Schulklassen werden still und starren minutenlang die vorbeischwimmenden Fische an. "So etwas, wie ich es bei den Aquarien erlebe, kenne ich sonst nur vom Tauchen", sagt Müller. Das Farbenspiel, die wiegenden Pflanzen. "Es ist ganz schlicht und ergreifend eine andere Welt." Die eine, die man gut kennt, ist über dem Wasser, die andere darunter.

Müller ist seit fast 20 Jahren in Hellabrunn, mittlerweile hält er häufig Vorträge, von Schulen bis zu Altersheimen. "Kinder können zum Glück ein Becken noch von einem Bildschirm unterscheiden." Denen erzählt er dann zum Beispiel, wie giftig der Steinfisch ist, wenn er einen Menschen mit seinen Dorsalflossen erwischt, "kann das tödlich sein". Oder der Oktopus, der im Becken nebenan lebt und in seinem Aquarium ein Labyrinth aus Plexiglas-Kammern hat. "Ein Tier, das den Deckel einer Flasche mit acht Umdrehungen aufbekommt, das muss man geistig bei Laune halten." Deshalb bekommt der Krake jeden zweiten Tag sein Futter am Ende des Labyrinths abgelegt und muss es sich erdenken und erarbeiten. "Diese Tiere werden nicht sehr alt, aber wir haben gemerkt: Wenn wir sie beschäftigen, leben sie manchmal bis zu zwei Jahre."

Der 96 Kilogramm schwere Mann geht wieder durch eine Tarntür zum Hinteren Teil der Aquarien und dort zum Becken für Stachelrochen. Schwarz und platt mit weißen Punkten liegen sie auf dem Sandboden ihres Bassins, Müller steigt eine Stufe nach oben, hält seine Hand ins Wasser und plätschert leicht. Ein Rochen kommt angeschwommen. "Die erkennen mich natürlich nicht, aber durch ihre Seitenlinien haben sie ja einen unglaublich guten Ferntastsinn und können die Erschütterungen einem Gewicht zuordnen." Besucher, die auch 96 Kilo wiegen, haben also gute Karten bei den Fischen in Hellabrunn. Müller steckt dem Rochen an dessen Unterseite ein paar Garnelen ins Maul, streicht ihm über die Schnauze, dann treibt das Tier wieder davon.

Die persönliche Verbindung. Was die Mitarbeiter sich für ihre Besucher wünschen, dass sich der Mensch zum Tier hingezogen fühlt, will ein Mann wie Müller vermeiden. Er wolle eben alle Tiere gleich behandeln, sagt er. "Kein Fisch bekommt von mir einen Namen." Doch manchmal erlebt dieser Mann dann doch Dinge, die es schwer machen, das durchzuhalten.

"Ich habe vor einiger Zeit mal morgens einen Drückerfisch neben seinem Becken gefunden", sagt er. Ein Drückerfisch würde normalerweise dem Aquarianer sofort eine Fingerkuppe abbeißen, wenn der sie ins Wasser hielte. "Der lebte noch, hat sich bewegt, die sind ganz schön robust, es war also noch nicht so lange her. Aber er war schon ziemlich ausgetrocknet." Müller benetzte ihn, wusch ihn, gab ihn in eine Wanne und erhöhte mit einem Luftschlauch, genannt Perlator, den Sauerstoffgehalt des Wassers. Dann langsam kam er wieder in ein größeres Becken. "Aber er hatte sich die Schleimhaut verletzt." Man musste ihn eincremen. Am Anfang ging das noch in der Wanne, dann aber kam der Fisch immer schon, wenn er wusste, dass der 96-Kilo-Müller ankam, an die Oberfläche geschwommen, drehte eine Seite zu ihm, bis Müller ein Zeichen mit der Hand machte, umdrehen, drehte sich um und schwamm dann wieder weg. "Wenn ein anderer kam, hat er sofort gebissen."

Müller erzählt das, als wäre es ein Naturphänomen. Nicht, dass er Freundschaft mit einem Drückerfisch geschlossen hätte. "Ich war dann im Urlaub, und als ich zurückkam, war der wieder ganz wild. Gottseidank."

© SZ vom 28.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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