Theater:Der Himmel über Tiflis

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Sieben junge Georgier entführen 1983 eine Aeroflot-Maschine, sie suchen die Freiheit und finden den Tod. Tamó Gvenetadze hat aus der missglückten Fluchtgeschichte ein Theaterstück gemacht

Von Stefanie Schwetz

November 1983. Auf einem Linienflug von Tiflis nach Leningrad versuchen sieben junge Georgier, eine Aeroflot-Maschine in ihre Gewalt zu bringen. Das Ziel der Entführer: Sie wollen das Flugzeug vom Kurs abbringen und eine Landung in der Türkei erzwingen. Das Vorhaben scheitert. Es kommt zur Konfrontation mit dem Militär. Zwei Entführer sowie einige Passagiere und Besatzungsmitglieder sterben. Vier Entführer werden später zum Tode verurteilt. Soweit die Fakten.

"Das hätten meine Freunde sein können", sagt Tamó Gvenetadze, obwohl sie sich sicher ist, dass sie selbst bei so einer Aktion nie mitgemacht hätte. Die 23-jährige Georgierin hat die Geschichte der Flugzeugentführung als Theaterstück inszeniert. An diesem Freitag, 9. Juni, hat "Der Himmel über Tiflis" mit Schauspielern der Studiobühne der Theaterwissenschaft im Einstein Kulturzentrum Premiere.

Eine szenische Collage ist dieses Stück, es geht um das Entführungsdrama, aber auch um eine Liebesgeschichte zwischen der Kunststudentin Tina und dem Schauspieler Gega. Die Protagonisten: vier Freunde mit Fluchtplan und ein junger Mönch, der vergeblich versucht, die jungen Menschen von der Entführung abzubringen. Später wird er sich für sie opfern in der Hoffnung, sie könnten der Todesstrafe entgehen. "Wenn ich also alles unterschreibe, was Sie von mir verlangen, kommen sie frei? Dann haben Sie mein Geständnis", sagt der Beichtvater in einer Szene.

Was aber hat Tamó Gvenetadze mit diesen vollkommen fremden Menschen gemein, die zehn Jahre vor ihrer Geburt ein Flugzeug entführten? Da ist einmal das Interesse an Malerei, Fotografie, Film und natürlich am Theater - all den kulturellen Spielarten, die einen epischen Zugang zum Weltgeschehen ermöglichen. Dazu kommt, dass die Entführer damals ungefähr genauso alt waren wie Gvenetadze heute. Die größte Gemeinsamkeit aber ist der Wunsch, Georgien zu verlassen. "Leute, wir sind nicht die echten Terroristen", rechtfertigt sich der Künstler Sosso auf der Bühne für die Tat und erhebt Anklage gegen den sowjetischen Staat, der seine Bürger in ihren Freiheiten beschränkt. "Mein Vater, ein anerkannter Mann in dieser Gesellschaft, ist Wissenschaftler. Er darf die sowjetische Grenze so oft überqueren, wie er nur will. Trotzdem ist er genauso wenig frei wie wir."

Tina und Gega, gespielt von Nino Imnadze und Yoshi Goldberg, sind erfüllt von der Liebe füreinander und dem gemeinsamen Wunsch nach einer Freiheit westlichen Stils. Dafür setzen sie alles aufs Spiel. (Foto: Florian Peljak)

Tamó Gvenetadze weiß, wovon Sosso da spricht. Auch sie hatte den Wunsch, den restriktiven Lebensbedingungen in ihrer Heimat zu entfliehen, obwohl in Georgien seit 1991, nach dem Untergang der Sowjetunion, eine parlamentarische Demokratie herrscht. "Ich mache dem Kommunismus große Vorwürfe", erklärt sie, "weil er das Denken der Menschen über Generationen hinweg eingeengt hat." Bis heute sei das spürbar - diese tief greifende Angst vor Neuem, dieser allgegenwärtige Druck einer patriarchalischen Gesellschaft, in der Frauen nach der Hochzeit oft nicht mehr arbeiten. "Das hat meine persönliche Entwicklung behindert", erzählt die junge Frau, Jahrgang 1993. "Ich musste da weg."

"Der Mensch muss immer Entscheidungen treffen. Egal, ob er gläubig ist oder nicht. Er muss zwischen Gut und Böse unterscheiden können. Zwischen Licht und Dunkelheit, zwischen Freiheit und Sklaverei", lässt Tamó Gvenetadze den Mönch in ihrem Stück sagen. Seit fünf Jahren lebt Gvenetadze nun in Deutschland, erst als Au-pair in Eching, später in einer Münchner Familie. Schnell war ihr klar, dass sie bleiben würde, nicht nur weil sie so herzlich aufgenommen wurde. Was sie an Deutschland schätzt, ist die Bereitschaft zur Veränderung, nach dem Krieg und nach der Wende. "In Deutschland trauen sich die Menschen, mal etwas anders zu machen", beobachtet Tamó Gvenetadze - politisch und kulturell. Nach dem georgischen Abitur hat sie auch noch das deutsche abgelegt. Nun studiert sie an der LMU Theaterwissenschaft. So ist sie an der Studiobühne gelandet.

Bilder möchte Gvenetadze für das Theater komponieren, "etwas schaffen, was Menschen bewegt" - jenseits kultureller Gleichschaltung wie zu Hause in Georgien, wo sie als Teenager mit ihrem Cousin vor dem Computer saß und Filme analysierte oder für einen Harry-Potter-Film vier Stunden in die nächste Großstadt fahren musste. Das Theater als Bildungseinrichtung wie in Deutschland, das gebe es dort nicht, genauso wenig wie eine freie Szene.

Gespielt wird "Der Himmel über Tiflis" von drei Georgiern, einem Polen und einem Deutschen. Die Regisseurin lacht über diese personelle Zusammensetzung, über den "alten Ostblock", der sich hier versammelt hat. Den Titel des Stücks indes hat Tamó Gvenetadze in Anlehnung an Wim Wenders Film "Der Himmel über Berlin" gewählt, als Verbeugung vor dem kulturellen Leben in ihrer neuen Heimat. Und das, obwohl ihr "Herz immer noch georgisch schlägt".

Tamó Gvenetadze fühlt sich wohl mit dem Theater und in ihrer neuen Rolle als Regisseurin. (Foto: Jean-Marc Turmes)

Dabei unterscheidet sich die junge Frau in einer Sache grundlegend von den realen Flugzeugentführern und den Figuren, die sie für die Bühne nachgezeichnet hat. "Ich hatte keine Kindheit, in der ich alles hatte", erzählt sie. Aber die Entführer waren alle Kinder aus reichen bildungsbürgerlichen Familien, Ärzte, Schauspieler, Künstler. "Die hätten auch über Beziehungen ein Ticket ins Ausland bekommen, so wie sie an Jeans und Musik aus dem Westen herankamen." Die Entführung von Tiflis war ihrer Meinung nach eher das spektakuläre Statement einer Elite. Die jungen Menschen seien zwar mutig gewesen, was aber die Auswirkungen ihrer Tat betrifft, auch sehr naiv. "Wir wollen niemanden töten. Wir brauchen die Waffen nur, um den Piloten zu verängstigen", sagt Sosso in einer Szene. Und der Maler Dato beteuert: "Es wird niemand zu Schaden kommen. Du weißt doch, dass ich niemanden töten könnte. Eher opfere ich mich selbst."

In Georgien ist die Deutung der Aktion bis heute strittig. Die einen sehen in den jungen Leuten eiskalte Terroristen, andere politisch Verzweifelte. Der georgische Autor Dato Turaschwili, selbst aus dem Umfeld der Entführer stammend, hat die Ereignisse von Tiflis literarisch verarbeitet. "Westflug", so der deutsche Titel des dokumentarischen Romans, auf dem die Theaterarbeit von Gvenetadze basiert. Ursprünglich hatte sie Turaschwili gebeten, ihr eine Bühnenfassung zu liefern. Der schlug den Ball zurück: "Wenn du das aufführen willst, musst du es selbst schreiben." Tamó Gvenetadze hat den Auftrag angenommen. Ohne sich linear an den einzelnen Begebenheiten abzuarbeiten, rückt sie in Zeitsprüngen Szene für Szene ins Zentrum des Geschehens vor, dorthin, wo sich Politik und Lebensentwürfe, Selbstbestimmung und Verantwortung kreuzen. Insofern wird in "Der Himmel über Tiflis" nicht nur über das Für und Wider der Entführung verhandelt. Das Stück dokumentiert auch Gvenetadzes Drang nach Freiheit sowie ihre Ablehnung jeglicher Gewalt.

Wie viel Realität und wie viel Fiktion aber stecken in diesem Stück? Während das Buch sehr real sei, schon allein weil der Autor vieles aus persönlichen Quellen wisse, habe sie einige Handlungselemente bewusst versöhnlicher gestaltet, erzählt Gvenetadze. Zum Beispiel, dass Tina, die einzige Überlebende aus dem Freundeskreis, sterben darf und damit erlöst wird. Und dass die Mutter ihres geliebten Gega nach jahrzehntelanger Suche das Grab ihres Sohnes findet. Die Regisseurin ist gespannt, was Dato Turaschwili, der bei der Premiere anwesend sein wird, dazu sagt.

Der Himmel über Tiflis, Premiere am 9. Juni um 20 Uhr im Einstein, Einsteinstraße 42; weitere Aufführungen am 10. und 11. Juni, 20 Uhr; Kartenreservierung: himmeluebertiflis@web.de

© SZ vom 09.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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