Neuperlach:"Das ist irgendwie gelaufen wie bei so einer Facebook-Party"

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Eigentlich wollten die Anwohner in Neuperlach nur nicht so stark den Lärm vom Flüchtlingsheim (im Hintergrund) hören. Seit dem Bau der Lärmschutzmauer müssen sie sich rechtfertigen. (Foto: Stephan Rumpf)
  • Seit Anfang November macht die Neuperlacher Mauer Furore, die eine Wohnsiedlung von einer Flüchtlingsunterkunft trennt.
  • Die Bewohner sagen, die Mauer sei als Lärmschutz gedacht. Kritiker werfen ihnen Fremdenfeindlichkeit vor.

Von Anna Hoben

Es ist Gras über die Mauer gewachsen, ein bisschen jedenfalls. Von der Nailastraße aus gesehen links, auf der Seite der Anwohner, ist das Bauwerk angeböscht, das heißt: Ein Haufen Erde wurde so aufgeschüttet, dass eine Schräge entstanden ist. Sträucher wurden gepflanzt; vereinzelte Grasbüschel hellen das winterliche Braungrau etwas auf.

Wer sich mit der Neuperlacher Mauer beschäftigt, lernt immer wieder neue Gartenbau-Vokabeln. Anböschen. Gabionen. Letzteres sind jene mit Steinen gefüllte Drahtkörbe, aus denen die Lärmschutzwand besteht. Auch die Anwohner an der Nailastraße wussten nicht, was Gabionen sind - bis zum Bau der Mauer. Was sie mittlerweile genau wissen: Was so eine Gabionenwand auslösen kann.

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:Diese Mauer will nur den Lärm ausgrenzen

Seit Kurzem trennt eine Wand Flüchtlingsunterkunft und Anwohner im Münchner Stadtteil Perlach. Die wehren sich gegen den Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit: Es gehe ihnen doch nur um ihre Ruhe.

Von Anna Hoben

Da klingelt abends um acht ein russischer Reporter an der Tür und will ein Interview. Da berichtet der Schwiegersohn in Bangalore, dass er die größte indische Tageszeitung aufgeschlagen und ein Foto von der Münchner Mauer gesehen hat. Da entdecken die Anwohner eines Morgens an ihrer Hauswand Schriftzüge: "Drecksfaschos", "Nazis", "Rassisten".

Kurze Chronologie der Ereignisse: Anfang November lädt Guido Bucholtz, stellvertretender Chef des Bezirksausschusses Ramersdorf-Perlach, ein mit einer Drohne gefilmtes Video im Internet hoch. Es zeigt eine Mauer, die ein Wohngebiet von einer geplanten Unterkunft für 160 minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge trennt. Anwohner hatten den Lärmschutz gerichtlich erstritten; die Stadt hatte sich auf den Kompromiss eingelassen. 200 000 Euro ließ sie sich die Mauer kosten.

In dem Video vergleicht Bucholtz, der als Stadtteilpolitiker die Einigung ursprünglich mitgetragen hatte, die Mauer in Neuperlach (Höhe: vier Meter) mit der Berliner Mauer (Höhe: 3,60 Meter). Die Presse berichtet, von einer "neuen deutschen Mauer" wird gesprochen, die ein Symbol gegen Flüchtlinge sei. Unbekannte sprühen "Rassismus pur" an die Wand. Stadträte von Grünen und Rosa Liste fordern den Abriss der Mauer. Englische, italienische, französische, australische Medien berichten. Am 9. November, dem Tag, an dem klar ist, dass der bekennende Mauerfan Donald Trump neuer US-Präsident wird, zugleich Jahrestag des Berliner Mauerfalls, baut eine Gruppe um den Kleinkunstunternehmer Till Hofmann temporär den "Checkpoint Ali" auf. Eine Satireaktion, die Anklang findet, aber auch Kopfschütteln auslöst. Am 11. November tagt der Bezirksausschuss, Polizisten schützen die Versammlung.

Zwei Wochen später sitzt Stephan Reich auf seiner runden Eckbank, beide Hände flach auf den Tisch gelegt. "Es war schon eine lebhafte Zeit", sagt er, "aber jetzt ist es ja wieder ruhig." Reich und seine Frau Iva sind die Anwohner, deren Grundstück am nächsten an der Mauer liegt. Iva Reich sagt: "Das Verrückte ist, die Flüchtlinge sind noch gar nicht da." Und die Polizei warnt die Anwohner: "Das mit den Schmierereien ist noch nicht zu Ende." Die alten haben sie schon entfernt - damit sich die Farbe nicht in den Putz frisst.

"Ich konnte mir schon vorstellen, wie das aussieht", sagt Stephan Reich. Er ist Richter, kümmert sich um Nachbarschaftsstreitigkeiten. (Foto: Stephan Rumpf)

Mit welcher Wucht der Sturm über sie hereingebrochen ist - die Anwohner können es immer noch kaum fassen. Sie sind nicht vertraut mit den Funktionsweisen der sozialen Netzwerke und den Mechanismen der modernen Medien. Aber sie wissen, dass sie da jetzt durch müssen. "Das ist irgendwie gelaufen wie bei so einer Facebook-Party", sagt Iva Reich. "Man lädt zwei Leute ein, und es kommen 2000."

Ihr Mann Stephan Reich antwortet betont ruhig auf Fragen, nahezu stoisch. Er ist 59 Jahre alt und Richter am Landgericht. Zivilrecht, Nachbarschaftsstreitigkeiten, solche Sachen. Vor Kurzem entschied er über den Fall einer Hecke, die bei Bauarbeiten umgenietet worden war. Ein Nachbar behauptete, das sei seine Hecke gewesen. Das Katasteramt bestätigte daraufhin, dass die Hecke sich auf dem Baugrundstück befunden hatte; das Fällen war also rechtens.

Wenn die Dinge in Neuperlach doch auch so eindeutig wären.

Eindeutig ist nur eines: Die Mauer ist eine Mauer ist eine Mauer. Auch wenn dieser Münchner Streit seit drei Wochen ja auch eine linguistische Komponente hat. Mit Bezeichnungen wird um die Deutung gerungen. "Wenn man von der Gabionenwand spricht, klingt das offenbar besser", sagt der Hobbyfilmer Guido Bucholtz. Der 62-Jährige selbst klingt ziemlich mitgenommen am Telefon, will erst nicht reden, sagt, er brauche noch mehr zeitlichen Abstand. Und dann redet er doch.

Er bleibt dabei: "Die Mauer dokumentiert Abschottung." Hätte er jedoch vorher gewusst, was er auslösen würde, er hätte das Video nicht ins Netz gestellt. Vor allem auf den Vergleich mit der Berliner Mauer würde er verzichten. "Der hat den ganzen Hype erst ausgelöst, das war ein Fehler." Auf seiner Internetseite hat er diesen Teil aus dem Video gelöscht. Um die 70 Mails mit Beschimpfungen hat er erhalten in den vergangenen Wochen; aber auch etwa 15 von Menschen, die ihm zustimmen.

Tatsache ist, dass alle erschrocken waren, dass die Mauer, als sie stand, so aussah, wie sie nun aussieht. Auch die Anwohner, selbst manche der Kläger. Sie erschraken darüber, wie lang 40 Meter sind. Und wie hoch vier Meter. Nur Stephan Reich auf seiner runden Eckbank, der sagt sanft: "Ich konnte mir schon vorstellen, wie das aussieht." Er hält daran fest: "Die Mauer ist eine Win-win-Situation." So könnten die Flüchtlinge auf dem geplanten Spiel- und Sportplatz neben der Unterkunft toben (vorgesehene Zeiten hierfür: werktags zehn Stunden, sonn- und feiertags: neun Stunden). Und er und die anderen Anwohner könnten nach einer anstrengenden Arbeitswoche im Garten entspannen.

Wenn denn irgendwann tatsächlich wieder richtig Ruhe einkehrt. Noch ist die Mauer Projektionsfläche für den Zustand des Landes und als solche auch ein Magnet für einen gewissen Sensationstourismus. Manche kämen extra aus Augsburg angefahren, um sich die Mauer anzusehen, erzählen die Anwohner. Sie scherzen dann, dass sie ein gutes Geschäft machen könnten, wenn sie sich mit einem Bauchladen davorstellen würden oder eine Currywurstbude aufmachen. Man pflegt eine gute Nachbarschaft hier, daran hat auch der Wirbel um die Mauer nichts geändert.

Zu den Anwohnern gehört auch ein Mann, dessen Name hier mal Manfred Müller sein soll. 68 Jahre, Gymnasiallehrer im Ruhestand, "je schwieriger die Schüler, desto besser bin ich mit ihnen ausgekommen". Müller hat nicht auf Lärmschutz geklagt, aber er hat Verständnis für die Kläger. In seinem Wohnzimmer legt er einen dicken Ordner auf den Tisch. "30 Jahre Einsatz für Neuperlach", sagt er. In dem Ordner sind Briefe abgeheftet, die er 2014 an den Oberbürgermeister geschrieben hat.

Damals war noch von 300 Menschen und einer Containerbauweise die Rede gewesen. Die Stadt solle die Menschen in festen Häusern unterbringen, schrieb Müller. "Verhindern Sie die Fehler, die in der Bayernkaserne gemacht wurden." 45 Nachbarn unterschrieben, auch die Kläger. Müllers Anliegen: Die Unterkunft soll eine Vorzeigeunterkunft werden. Er ist Macher, Pragmatiker und Stadtteilpatriot. Jetzt kämpft er für den Ruf von Neuperlach.

Als die Münchner im Sommer 2015 Tausende Flüchtlinge mit offenen Herzen in Empfang nahmen, war er stolz. Das hat auch mit einer Reise zu tun, die er und seine Frau 2011 gemacht haben. Sie führte sie nach Syrien, Jordanien und in den Libanon. Müller holt jetzt Fotoalben, Aleppo, Palmyra, Damaskus, all diese herrlichen Städte, diese reiche Geschichte, Müller flippt fast aus, es war die schönste Reise seines Lebens. Und am tollsten waren die Menschen, so unfassbar gastfreundlich. An einem Donnerstag verließen sie damals Syrien, am Freitag gab es die ersten Toten, der Krieg hatte begonnen.

Iva Reich, die als "Drecks-Fascho" und "Nazi" beschimpft wurde, behandelt in ihrer Arztpraxis seit einiger Zeit auch 27 irakische Flüchtlinge. Beim letzten Besuch erkundigten sich einige von ihnen höflich nach ihrem Befinden. Sie fragten, was dieser ganze Trubel zu bedeuten habe.

© SZ vom 26.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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