Neue Heimat:Immer diese Nackerten im Englischen Garten

ImPOsante Ansichten...

Die Nackerten im Englischen Garten sind so berühmt, dass sie sogar in Reiseführern erwähnt werden.

(Foto: dpa)

Unser afghanischer Autor fragt sich: Muss man gleich alle Hüllen fallen lassen, um gesund und frei zu sein?

Kolumne von Nasrullah Noori

In München sprechen immer alle über die "Nackerten" im Englischen Garten, und dass das zur Stadt traditionell dazugehört. Ich fragte mich, was denn wohl "nackert" bedeutet, ehe ich herausfand, dass es sich hierbei um das bairische Wort für "nackt" handelt. Es musste also wieder eines dieser eigentümlichen bayerischen Phänomene sein. So etwas wie Jodeln oder Volkstänze. Meine Einschätzung verstärkte sich, als ich in die tiefere Recherche ging. Die Nackerten im Englischen Garten sind so berühmt, dass sie sogar in Reiseführern erwähnt werden.

Ich konnte mir das überhaupt nicht vorstellen. Ich bin in Afghanistan aufgewachsen. Ein erwachsener Mensch, der sich dort nackt in der Öffentlichkeit zeigt, würde als verrückt angesehen werden. Die Polizei würde ihn schnell einfangen und hinter Gitter bringen. Also musste ich wohl der Sache auf den Grund gehen. Und tatsächlich: Am Ufer des Eisbachs und des Schwabinger Bachs sitzen Frauen und Männer, mit Handtüchern, aber ganz ohne Kleidung. Manche stehen und gehen sogar so herum und kaufen sich ein Eis. Oder sie tragen freiwillig Schmuck mit sich herum, an Stellen, die man in Afghanistan - wenn überhaupt - im Schlafzimmer herzeigt.

Ich habe gelesen, dass ein Sonnenbad den Vitamin-D-Haushalt anregt. Ich verstehe auch, dass "Nackertsein" für die Leute im Englischen Garten etwas mit Freiheit zu tun hat und mit Spaß. Vielleicht ist das tatsächlich Folklore. Aber muss man denn gleich alle Hüllen fallen lassen, um gesund und frei zu sein?

Afghanistan dagegen ist in Deutschland als Land der Verhüllung bekannt. Frauen in Burkas, das war Pflicht in der Regierungszeit der Taliban. Nackte Menschen waren absolut undenkbar. Inzwischen ist das etwas anders. Kleine Jungs baden nackt (oder soll ich sagen: "nackert"?) im Dorfteich oder im Fluss. Bis zur Pubertät sind auch die Mädchen dabei. Die müssen allerdings etwas mehr Kleidung tragen, immerhin müssen sich Mädchen nicht vollständig verhüllen.

Wir haben, wie überall in der islamischen Welt, Badehäuser, oder wie wir sagen: Hammams. Dort treffen sich Männer und Frauen zur Entspannung und Körperpflege. Aber niemals zusammen. Männer gehen an anderen Wochentagen in den Hammam als Frauen, und niemals ist man völlig nackt. Die Männer tragen immer ein Tuch um die Hüften. Es hat etwas mit Schamgefühl zu tun. Auch damit, dass Privates privat bleiben soll.

Für mich selbst könnte ich mir so ein vollständiges "Nackertsein" nicht vorstellen. Ich finde es gut, wenn bestimmte Teile von mir und anderen Menschen privat bleiben. Und ich würde Männern wie Frauen Badekleidung empfehlen. Für mich ist das Freiheit. Das ist auch die Freiheit, die sich meine Mitstudentinnen an der Universität genommen haben, wenn sie enge Kleidung trugen oder auch Haut zeigten. Für mich ist das normal.

In Afghanistan auf dem Land wäre das undenkbar. Überall würden sie die großen Augen der Männer verfolgen, gleichzeitig würden sie Anstoß und Zorn erregen. So wie die berühmte afghanische Sängerin Aryana Sayeed es mit ihrer Garderobe bei einem Konzert in Paris getan hat. Die kam den Moralwächtern in Afghanistan doch sehr freizügig vor, so dass Aryana Sayeed ihr Bühnenkleid öffentlich verbrannte. Damit sie in Afghanistan keinen Ärger bekommt.

Ich finde es schade, dass so etwas nötig ist. Eigentlich sollte jeder machen dürfen, was er will. Da werden mir die "Nackerten" schon fast sympathisch. Ich selbst freue mich, dass ich in diesen Wochen ins Freibad gehe und mich - mit Badehose - an das Schwimmbecken lege. Es werden dort Frauen und Männer sein. Und es ist egal, ob dort manche mehr Kleider haben und manche weniger. Ich glaube, dass das Freiheit ist.

Neue Heimat - Der andere Blick auf München

Der Autor: Nasrullah Noori, 27, stammt aus Kundus in Nordafghanistan. Er arbeitete dort als Journalist fürs Fernsehen, unter anderem für den staatlichen Sender RTA. Wegen seiner Berichte über Mädchenschulen erhielt er von der Taliban-Miliz Morddrohungen und musste fliehen. Seit 2014 lebt er mit seiner Familie in München.

Die Serie: Zusammen mit drei anderen Flüchtlingen schreibt Noori für die SZ eine Kolumne darüber, wie es sich in Deutschland lebt und wie er die Deutschen erlebt. Alle Folgen finden Sie auf dieser Seite. Hintergründe zu unseren Kolumnisten finden Sie hier.

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