Jugendliche Asylbewerber:Auf der Flucht gealtert

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In Clearinghäusern wird ermittelt, welche Hilfen nötig sind. (Foto: Robert Haas)
  • Minderjährige werden in der Jugendhilfe wesentlich besser betreut als Erwachsene. Doch wer vermag zu sagen, ob ein Flüchtlinge ohne Pass 17 oder 18 Jahre alt ist?
  • In München schätzen zwei Pädagogen des Jugendamts nach einem Gespräch mit den Asylsuchenden deren Alter. Wird ein Flüchtlinge zu alt geschätzt, landet der Fall nicht selten vor Gericht.
  • In der Diskussion stehen auch andere Methoden der Altersbestimmung. Unumstritten sind auch die nicht.

Von Bernd Kastner

Da sind die Geschwister aus Kambodscha, Vollwaisen, die gemeinsam nach Deutschland geflohen sind und hier getrennt werden: Der Junge muss nach Jena, das Mädchen bleibt in München. Da ist der Somali, der so verzweifelt ist, dass er droht, sich vor den Zug zu werfen. Oder der andere Somali, der nach einem Monat in einer Jugendhilfeeinrichtung plötzlich in ein Heim für Erwachsene umziehen muss. Als der Kinderarzt Thomas Nowotny ihn in seiner Container-Unterkunft in Berg am Laim besucht und ihn bittet, für ein Foto zu lächeln, sagt er, er könne nicht mehr lächeln.

All diesen jungen Flüchtlingen ist gemein, dass sie ohne Eltern und meist ohne Pässe gekommen sind, Schlimmes hinter sich haben, und eine einzige Entscheidung ihr weiteres Leben bestimmt: die behördliche Festsetzung ihres Alters. Wer aber vermag zu sagen, ob einer 17 oder 18 Jahre alt ist?

Das Jugendamt tut es, weil es muss.

Nowotny, ehrenamtlich engagiert in der Flüchtlingshilfe, ist über das Procedere nicht glücklich. Er kritisiert, dass immer wieder Flüchtlinge, die nach eigenen Angaben und aus Sicht ihrer Betreuer minderjährig sind, älter gemacht würden. Ein paar Monate entscheiden, welche Hilfe jemandem zuteil wird. Minderjährige werden in der Jugendhilfe wesentlich besser betreut als Erwachsene. Diese werden schnell weg aus München "verteilt", wie es im Behördenjargon heißt.

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Seit knapp einem Jahr ist das Jugendamt für neu ankommende Jugendliche zuständig. Zwei Pädagogen schätzen nach einem Gespräch mit den Asylsuchenden deren Alter. Laut Jugendamtschefin Maria Kurz-Adam würden derzeit 70 Prozent für minderjährig erklärt. Einige aus den übrigen 30 Prozent vertritt Hubert Heinhold, Rechtsanwalt und Asylexperte. Vor Gericht hat er bereits mehrere Entscheidungen zugunsten seiner Mandanten erstritten. Grundsätzlich, sagt er, schätze er die Arbeit des Jugendamts sehr, kritisiert aber das bislang praktizierte System.

Bei der Ankunft in Deutschland wirken Flüchtlinge oft älter als sie sind

Von den Gerichten werde eine medizinische Begutachtung verlangt. Dies mittels Röntgen zu tun, sei komplett abzulehnen, da dies potenziell schädlich sei. Aber nichts spreche dagegen, den Jugendlichen aufgrund seines Körperbaus zu begutachten. Allein, dies müsse ein Experte, also ein Arzt, tun und nicht wie bisher medizinische Laien wie die Pädagogen.

Ein Gespräch hält Heinhold prinzipiell für sinnvoll, aber auch das sollten Fachleute führen: Ausgebildete Psychologen, die sich ausreichend Zeit nehmen sollten, eine Dreiviertelstunde reiche dafür nicht aus. Überhaupt solle man einen Flüchtling nicht kurz nach seiner Ankunft vorladen, man müsse ihn zunächst zur Ruhe kommen lassen.

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Auf der Flucht nämlich hätten sich viele Kinder ein erwachsenes Verhalten antrainiert, wirken bei Ankunft also viel älter, als sie in Wahrheit seien. Außerdem, fordert Heinhold, solle das Jugendamt nicht Richter in eigener Sache sein: Dies provoziere die Frage, ob die Altersentscheider, und sei es unbewusst, jemanden älter machen, um die Jugendhilfe nicht noch weiter zu überlasten.

Röntgenuntersuchungen sind nicht präzise genug

Kurz-Adam ist selbst überhaupt nicht glücklich über die Pflicht, dass ihr Haus das Alter der jungen Flüchtlinge schätzen muss, verteidigt aber das aktuelle Procedere, auch den Einsatz von Pädagogen. Röntgenuntersuchungen lehnt sie wie Heinhold komplett ab. Angesichts diverser Gerichtsentscheidungen, in denen die Feststellungen des Amtes gekippt wurden, befürchtet sie, dass ihr Haus von Richtern immer stärker zu eben diesem Röntgen gedrängt werde, die Bemühungen der Flüchtlingsanwälte also kontraproduktiv sein könnten: "Das macht mir Sorge." Zumal auch das Röntgen nicht endgültig klären könne, ob jemand 17 oder 18 Jahre alt sei.

In einem ist sie sich mit den Kritikern einig: Wenn ein Flüchtling sein offizielles Alter nicht akzeptiert und Widerspruch einlegt, das Verfahren also noch läuft, dürfe er nicht in eine andere Unterkunft außerhalb Münchens "verteilt" werden. So gingen gerade geknüpfte, wertvolle Bindungen verloren, und falls der Jugendliche später wieder jünger gemacht werde, bedeute dies den nächsten Beziehungsabbruch.

Wie alt ist ein Flüchtling? Niemand wird das definitiv sagen könne. Anwalt Heinhold und Kinderarzt Nowotny fordern deshalb, dass im Zweifel immer zugunsten des Flüchtlings seine Minderjährigkeit angenommen werde, so wollen es auch die Gerichte. Allein, ob ein Fall ein zweifelhafter ist oder ein eindeutiger, das entscheidet: das Jugendamt.

© SZ vom 19.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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