Traumatisierte minderjährige Flüchtlinge:Wenn plötzlich ein Notfall vor der Tür steht

Heckscher Klinik

Blick in den Innenhof der Heckscher Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Obergiesing.

(Foto: Catherina Hess)

Minderjährig, allein in einem fremden Land, traumatisiert von Krieg und Gewalt: Immer mehr junge Flüchtlinge landen als Notfälle in der Heckscher Klinik in München. Für die Einrichtung ist das eine enorme Herausforderung - für die Patienten oft die einzige Chance.

Von Bernd Kastner

Nadim zum Beispiel. Er stand oft am Fenster und starrte hinaus. Aber er nahm nicht wahr, was es zu sehen gab. Nadim stammt aus Afghanistan, als 14-Jähriger ist er geflohen, vor dem Krieg, vor dem Tod. Wenn draußen, vor dem Fenster seines Zufluchtsortes in Bayern, ein Auto aufheulte, dann schreckte er auf, weil ihn das Geräusch an die Bomben erinnerte und an die Schüsse.

Nadim war am Bahnhof in Rosenheim von der Polizei aufgegriffen worden, sein Onkel hatte die Flucht finanziert. Sein Vater konnte ihm nicht mehr helfen, er wurde ermordet, wie auch Nadims Brüder. Daran dachte Nadim oft, wenn er am offenen Fenster stand. Es war ein Fenster ganz oben unterm Dach der Jugendeinrichtung, er beugte sich vor, blickte nach unten. Als ein Betreuer ihn so sah, schloss er schnell das Fenster und rief in der Klinik an.

Franz Joseph Freisleder, Ärztlicher Direktor der Heckscher Klinik in Obergiesing, schildert die Geschichte Nadims in seinem Buch "Anders als die anderen - Was die Seele unserer Kinder krank macht", das er zusammen mit dem SZ-Redakteur Harald Hordych geschrieben hat. Das Schicksal ist fiktiv und doch wahr, der Anonymität wegen haben die Autoren mehrere Fälle zu einem verschmolzen. Der Kinder- und Jugendpsychiater Freisleder muss in seiner Klinik immer mehr jugendliche Flüchtlinge behandeln, meist stehen sie als Notfälle plötzlich vor der Tür, wie Nadim damals.

Junge Flüchtlinge sind "Hochrisikogruppe"

Oft bringe die Polizei sie vorbei, fast immer, weil die Beschwerden akut sind. Weil sie schwer depressiv sind, in einem heftigen Erregungszustand oder gar suizidal. Viele leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, sie bekommen das Erlebte nicht mehr aus ihrem Kopf. Bilder überfallen sie, Geräusche quälen sie. Eine "Hochrisikogruppe" nennt Freisleder die jungen Flüchtlinge. Riskant nicht für andere, sondern für sich selbst.

Im Jahr 2012 hat die Heckscher Klinik noch 30 unbegleitete jugendliche Flüchtlinge stationär behandelt, im Jahr darauf waren es 44, und bis Ende diesen Jahres dürften es wohl gut 70 werden. Ähnlich stark sind die Zahlen der ambulanten Fälle gestiegen: Seit 2012 um das Doppelte auf etwa 140 in diesem Jahr. Geschuldet ist das den Kriegen und Krisen in der Welt. Freisleder betont wieder und wieder, dass es für ihn und seine Mitarbeiter eine Selbstverständlichkeit sei, den jungen Flüchtlingen zu helfen. Aber sein Haus stelle dies vor neue, enorme Herausforderungen. Um helfen zu können, brauchen die Helfer auch die entsprechenden Ressourcen, sie brauchen Platz und Personal und Geld. Das alles aber ist knapp.

Verständigung mit den Flüchtlingen schwierig

Die Klinik hat im vergangenen Jahr eine dritte Akutstation aufgemacht, das ging auf Kosten der Tagesklinik. Schon bei der Aufnahme der jungen Flüchtlinge stellt sich die entscheidende Frage: Was fehlt ihnen? Die Verständigung mit ihnen ist zunächst kaum möglich, und Dolmetscher für Arabisch oder Farsi sind rar. Da kann es Tage dauern, bis ein erstes Diagnosegespräch mit einem Patienten möglich ist.

Er ist oft still, müde, traurig, reagiert dann plötzlich panisch oder aggressiv, ohne dass einer wüsste warum. Anders als hiesige Patienten komme ein Flüchtling meist als "völlig unbeschriebenes Blatt" in die Klinik, sagt Freisleder: "Man weiß erst einmal nichts über sie." Es gibt keine Krankenakte von vorhergegangenen Behandlungen, es ist unklar, ob ihm auch somatisch etwas fehlt.

Deutlich mehr dramatische Fluchtgeschichten

Wie kann sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie besser auf die Traumapatienten aus aller Welt einstellen? Vielleicht, überlegt Freisleder, mit einer großen, zentralen Einrichtung, die über entsprechend spezialisiertes Fachpersonal verfügt, über genügend Dolmetscher? Fachlich wäre das gut, der Integration aber womöglich hinderlich. Er habe, sagt Freisleder, auch noch keine Lösung, aber er wolle zumindest eine Diskussion anstoßen. "Wir müssen uns der neuen Aufgabe stellen. Aber dann müssen Staat und Kommunen auch bereit sein, sie ausreichend zu finanzieren." Derzeit würden nur die Notfallbehandlung bezahlt, das reiche aber nicht immer.

Der Nadim aus dem Buch bekommt nach seiner stationären Behandlung einen Therapieplatz bei Refugio. Das ist keine Selbstverständlichkeit, denn auch das Behandlungszentrum für Flüchtlinge und Folteropfer registriert immer mehr junge Patienten. "Die Zahl der dramatischen Fluchtgeschichten hat deutlich zugenommen", sagt Geschäftsführer Jürgen Soyer. Es kämen immer mehr Kinder, die nicht älter als 14 Jahre sind. Während Refugio diesen jungen Patienten allen einen Therapieplatz anbietet, reicht die Kapazität für ältere Flüchtlinge nicht einmal annähernd aus.

Lücken in der ambulanten Therapie

Auch Refugio mangelt es an Geld. Es sei letztlich Glückssache, wer Hilfe erhalte, sagt Soyer. "Das hat mit Gerechtigkeit nicht mehr viel zu tun." Ganz entscheidend für einen nachhaltigen Behandlungserfolg ist der Wechsel vom stationären Klinikaufenthalt in die ambulante Therapie. Aber auch da gibt es große Lücken: "Es gibt keinen nahtlosen Übergang", bedauert Soyer.

Dabei wäre der so wichtig. Denn wie sehr Therapie hilft, beobachten sie vom ersten Tag an in der Heckscher Klinik immer wieder. Das beginnt oft mit gemeinsamem Sport. Fußball oder Basketball können die jungen Männer auch spielen, ohne eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Dasselbe gelte für die Musik. Das sei oft der erste Schritt heraus aus der Sprachlosigkeit, hinein in eine neue, sichere Zukunft.

Nur ein Problem lässt sich mit keiner Therapie aus der Welt schaffen: Wenn sie wissen, dass ihre Familie in der Heimat bedroht ist, weil dort Krieg und Gewalt herrschen, lässt sie das nicht zur Ruhe kommen. Ihre Perspektive in Deutschland tut das Übrige: Hier sind sie zwar vor Gewalt sicher, aber ob und wie lange sie bleiben dürfen, das wissen sie meistens nicht. Diese Ungewissheit macht eine Therapie noch schwerer, als sie ohnehin schon ist.

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