Abschiebung in ein fremdes Land:Ein Risiko von 1:922 verletzt oder getötet zu werden

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Der 19-jährige Morteza Housseini hat keine Familie in Afghanistan, hat dort nie gelebt und soll dennoch dorthin ausreisen. Seine Klage gegen den Abschiebebescheid wurde vom Bayerischen Verwaltungsgericht abgewiesen. (Foto: Getty Images)

Obwohl er nie in dem Land gelebt hat, soll der 19-jährige Morteza Housseini nach Afghanistan ausreisen. Die Gefährdung dort sei nicht groß genug, so die Urteilsbegründung. Seine Pflegefamilie kämpft für ihn.

Von Clara Lipkowski, Wolfersdorf

Morteza Housseinis Abschiebung wird wahrscheinlicher. Der in Iran geborene und aufgewachsene 19-jährige Flüchtling soll nach Afghanistan ausreisen, obwohl er noch nie in dem Land war. Seine Klage gegen den Abschiebebescheid wurde vom Bayerischen Verwaltungsgericht abgewiesen.

Derzeit lebt er bei einer Pflegefamilie in Wolfersdorf. Eine Ausreiseaufforderung gibt es zwar noch nicht, die Chancen für ihn, bleiben zu können, stehen aber schlecht. Laut Gericht ist die Tatsache, dass er Afghanistan nie betreten hat, kein Grund, nicht dort zu leben. Ihm sei "zuzumuten, sich in einer Großstadt wie zum Beispiel Kabul oder Herat niederzulassen", heißt es in dem Urteil.

"Das finde ich menschenverachtend", sagt die Pflegemutter

Die Befürchtung, er sei dort gefährdet, weil er Schiit und Angehöriger der Minderheit der Hazara ist, wies das Gericht zurück. "Gerade in Herat sind große Teile der Bevölkerung Schiiten, so dass eine Verfolgung des Klägers dort nicht beachtlich wahrscheinlich ist", heißt es in der Urteilsbegründung. Gemessen an der Bevölkerungszahl ergebe sich in der Zentralregion Afghanistans, zu der auch Kabul gezählt wird, ein Risiko von 1:922 verletzt oder getötet zu werden, in Herat ein Risiko von 1:1396. Somit sei die Gefährdung nicht groß genug. "Das finde ich menschenverachtend", sagt Edith Thorma, Pflegemutter von Morteza Housseini, die dafür kämpft, dass er bleiben darf.

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Morteza Housseini soll in ein Land abgeschoben werden, in dem er noch nie war. Nun soll er auch noch seine Pflegefamilie verlassen und in eine Gemeinschaftsunterkunft ziehen.

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Er hatte auch angegeben, keine Familie in Afghanistan zu haben. Zudem sei er wegen seines "westlichen Äußeren" in Iran bedroht worden und befürchte derartige Übergriffe auch in Afghanistan. Laut dem Urteil aber könne er in Afghanistan Kontakte knüpfen. Ihm sei "zuzumuten, seinen Kleidungsstil ein wenig den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen." Morteza Housseinis Pflegefamilie wird das Urteil anfechten. Am kommenden Donnerstag wollen Edith und Cornel Thorma nach einem Gespräch mit dem Anwalt erneut klagen. Auch wenn sie dies schon längst finanziell belastet.

Derzeit wird die Sicherheitslage in Afghanistan von der Bundesregierung neu bewertet. "Wir hoffen darauf, dass Afghanistan nicht mehr als sicheres Herkunftsland eingestuft wird", sagt Edith Thorma. Dann müsste eine Abschiebung neu geprüft werden. Zurzeit schiebt der Landkreis Freising ohnehin nicht nach Afghanistan ab - es sei denn, es handelt sich um Straftäter, Gefährder oder Personen, die hartnäckig ihre Identitätsklärung verweigern; so will es das bayerische Innenministerium. Somit hat Morteza Zeit gewonnen. Er hofft, bald einen völlig neuen Asylantrag stellen zu können. Dies ist dann möglich, wenn sich die Sicherheitslage im Herkunftsland - oder wie in Mortezas Fall, im Abschiebeland - deutlich verändert hat. "Wir sind der Meinung, dass die Sicherheitslage 2015 wesentlich stabiler war als heute", sagt Edith Thorma.

Das Erstaunliche: Zieht er in eine Gemeinschaftsunterkunft, bekommt er Taschengeld und zusätzlich die Miete bezahlt

Unterdessen kämpft der 19-Jährige noch in ganz anderer Sache mit der deutschen Bürokratie: Bleibt er bei der Familie wohnen, wird es künftig teuer für die Pflegeeltern: Das Geld, das sie bislang monatlich für die Unterbringung bekamen - etwa 1000 Euro für Kleidung, Miete, Fahrtkosten, Essen und Erziehung - wird vom 28. September an gestrichen. Laut Jugendamt besteht kein Hilfebedarf mehr für ihn, damit fällt er aus der Jugendhilfe heraus und laut Landratsamt künftig unter das Asylbewerberleistungsgesetz. Demnach darf er zwar in der Pflegefamilie wohnen bleiben. In der Regel ist das bis zum 21. Lebensjahr möglich. "Aber er bekommt nur noch ein Taschengeld von 311 Euro vom Jobcenter", erklärt die 66-jährige Rentnerin Thorma. Die Pflegeeltern erhalten keinen Cent Unterstützung mehr. "Man sagte mir, er könne ja von seinem Taschengeld etwas an uns abgeben", sagt sie aufgebracht.

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Morteza wurde allerdings schon im vergangenen Jahr volljährig, womit der Hilfeanspruch eigentlich erlischt. Daraufhin prüfte das Jugendamt, ob noch Hilfebedarf besteht und entschied: Ja, es sei förderlich, wenn Morteza in Wolfersdorf wohnen bleibe. Nun, nach Neubewertung der Situation, gilt dies nicht mehr. Das Erstaunliche: Zieht er in eine Gemeinschaftsunterkunft, bekommt Morteza Taschengeld und zusätzlich die Miete bezahlt. Bleibt er in der Familie, müssen die Pflegeeltern dafür aufkommen. "Das ist unverständlich", kritisiert Edith Thorma. Der 19-Jährige wartet derzeit auf eine Ausbildungsgenehmigung, um Geld zu verdienen. Sie wisse zwar noch nicht, wie sie das finanziell stemmen könne, sagt sie, Morteza aber werde in jedem Fall bei ihnen bleiben "Trotzdem", sagt sie, "ich habe keine Kraft, mich um Geld zu streiten. Für mich ist es wichtiger, dass wir das Bleiberecht für Morteza bekommen."

© SZ vom 18.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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