Architektur:Verliebt in Beton

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Béton brut: Die besondere Ästhetik des Gräfelfinger Rathauses wird heute geschätzt. Seit 2019 ist es denkmalgeschützt. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Das preisgekrönte Gräfelfinger Rathaus, vor 50 Jahren von vielen Zeitgenossen als wuchtiger Bunker angesehen, wurde mit zahlreichen Details geplant.

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Massiv, scharfkantig und ziemlich grau thronte das Gräfelfinger Rathaus Ende der 1960er-Jahre auf der kleinen Anhöhe über seiner Gemeinde. Heute dominiert im Sommer die Farbe Grün: Die Natur hat das Haus eingenommen und die scharfen Kanten in zartes Blättergrün gehüllt. Es scheint, als wäre der Betonklotz, wie ihn die Gräfelfinger einst tauften, altersmilde geworden. Das steht ihm durchaus zu: Am Freitag, 15. September, feiert das Rathaus seinen 50. Geburtstag in geschlossener Gesellschaft. Es ist ein kurioses Doppeljubiläum: die Chefin des Hauses, Bürgermeisterin Uta Wüst, feiert an diesem Mittwoch ebenfalls ihren 50. Geburtstag. Das Adjektiv "altersmilde" steht ihr allerdings noch nicht zu.

Der Kontrast hätte schärfer nicht sein können: Seit 1909 stand das Wirtshaus "Zum Weißen Rößl" direkt am Bahnhof, mit einem ziegelgedeckten Satteldach versehen. Dann musste es dem nüchternen Quaderbau weichen, der 1967 ganz im Stil des damals modernen Brutalismus fertiggestellt wurde: eine Bauweise aus Beton, der als Material sichtbar bleibt. "Das war eine kleine Revolution", sagt Bernd Vollmar, ehemals Landeskonservator am Landesamt für Denkmalpflege in München. Der Bau sei "ein hochkarätiges Zeugnis der Architektur der 1960er- und 70er-Jahre". Die damaligen Gemeinderäte und der Bürgermeister Leopold Bachhuber hatten sich mutig für die Moderne entschieden, in den Augen vieler Bürger war das neue Rathaus jedoch eher eine Bausünde, die sie sofort "Betonklotz" und "Bunker" tauften, erinnert sich Andrea Knofe, die in Gräfelfing aufgewachsen ist und seit 1972 in der Gemeindeverwaltung arbeitet.

Bürgermeisterin Uta Wüst, gleicher Jahrgang wie das preisgekrönte Rathaus, schätzt das Gebäude als architektonisches Kleinod. Am Freitag feiern sie zusammen Geburtstag. (Foto: Catherina Hess)

So wuchtig das Haus damals auf die Gräfelfinger gewirkt haben mag - die Architekten Professor Peter Biedermann und Werner Böninger haben mit großer Detailversessenheit geplant. Beton muss in Schalen gegossen werden, damit man ihn verbauen kann und diese können gestaltet werden, erklärt Vollmar. In Gräfelfing wurden unter anderem Holzbretter als Schalung verwendet. Bei genauem Betrachten erkennt man überall im Gebäude die feine Holzmaserung mit Astlöchern im Beton. Ein anderes Detail ist die Fuge, die gestaltend eingesetzt wurde, "das war das Nonplusultra", sagt Vollmar. "In Gräfelfing findet man Fugen bis zum Abwinken": dort, wo Betonflächen zusammentreffen, auch zwischen Wand und Decke, es gibt Schattenfugen an den Türen und eine große Fuge im Treppenlauf, der sich durch alle Stockwerke zieht. "In diesem Gebäude ist alles kalkuliert, nichts ist dem Zufall überlassen, das ist die Besonderheit", sagt Vollmar.

Im Jahr 1969 erhielten die Planer den Architekturpreis des Bundes Deutscher Architekten. Die Gemeinde dokumentiert die Geschichte des Hauses aus Anlass des Jubiläums in einer Ausstellung vom 18. September bis 27. Oktober (Ruffiniallee 2, zu den Öffnungszeiten des Rathauses).

Umgezogen ist die Gemeindeverwaltung erst 1968, weil sich die Bauabnahme durch das Landratsamt verzögerte. Im alten Rathaus an der Bahnhofstraße saßen die Mitarbeiter monatelang auf gepackten Kisten, erinnert sich Werner Frisch, der damals in der Finanzverwaltung arbeitete, später Kämmerer wurde und 2011 in Pension ging. Für "verrückt" hielten es damals einige, so ein überdimensioniertes Rathaus zu bauen, erzählt er. Es gab sogar Ideen, den zweiten Stock an Rechtsanwälte oder Ärzte zu vermieten.

Das Haus hat Glück gehabt, "es hatte immer eine starke Lobby", sagt Vollmar. In den 50 Jahren wurde so gut wie nichts verändert, selbst die Stühle im Foyer und im Sitzungssaal sind die selben, auch Lampen und Briefkasten vor der Tür sind original. Modernisiert wird nur da, wo es nicht mehr anders geht: Gerade wurden die Toiletten saniert, auch ein neuer Aufzug ist in Planung, in den alten passt kein großer Rollstuhl. Demnächst müssen die zugigen Fenster saniert werden. Immer wieder wurden auch Anbaupläne diskutiert, denn in der Verwaltung wird es zunehmend eng. Doch Bürgermeisterin Uta Wüst (Interessengemeinschaft Gartenstadt Gräfelfing) würde das gerne vermeiden, das Gebäude soll bleiben wie es ist. Es wird längst als architektonisches Kleinod geschätzt. Wüst ist schon immer stolz auf den 1967er-Jahrgang gewesen, meint sie nicht ohne Schmunzeln. Und das durchaus im doppelten Sinne.

© SZ vom 13.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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