Amoklauf in München:Der Mann, der nicht davonlief

Amoklauf in München: Zum OEZ zu gehen, kostet Hüseyin Bayri bis heute große Überwindung. Die Stelle, an der der Junge starb, hat er nie mehr aufgesucht.

Zum OEZ zu gehen, kostet Hüseyin Bayri bis heute große Überwindung. Die Stelle, an der der Junge starb, hat er nie mehr aufgesucht.

(Foto: Catherina Hess)

Auch ein Jahr nach dem Amoklauf von München gilt Hüseyin Bayri als einer der Helden von damals: Noch während die Schüsse fallen, steht er einem Jungen bei, der im Sterben liegt. Eine Geschichte über Todesangst, Mut und neue Freundschaft.

Porträt von Anna Hoben

Er schwebt über der Szene. Schaut hinab auf die zwei jungen Männer, die am Boden liegen, der eine hat seinen Arm um den anderen gelegt. Der Jüngere blutet stark, der Ältere tröstet ihn. Der Tröster, das ist er. Seit einem Jahr sieht Hüseyin Bayri dieses Bild, jeden Tag, jeden Abend vor dem Einschlafen. Das Bild ist so scharf wie am ersten Tag, es verschwindet nicht.

Seit 16 Jahren wohnt Hüseyin Bayri in Moosach, wenige Straßen vom Olympia-Einkaufszentrum entfernt, das er "Öz" nennt. Am frühen Abend des 22. Juli 2016 fährt er mit seinem Fahrrad die Hanauer Straße entlang, er will sich an einer Tankstelle einen Energydrink holen. Als er an dem Elektronikmarkt vorbeifährt, auf Höhe des OEZ, hört er Schüsse. Er denkt nicht an eine Waffe, München ist eine sichere Stadt, sagt er sich, die sicherste Stadt der Welt. Im nächsten Moment bricht neben ihm ein junger Mann zusammen. Er blutet stark. Weitere Schüsse fallen. Bayri wirft sein Fahrrad weg und legt sich zu dem Jungen auf den Boden, nimmt ihn in den Arm. Er versucht, die Blutung zu stoppen. Und redet. Wie heißt du? Wo wohnst du? Hast du eine Freundin? Er nennt ihn "Bruder". Der Junge antwortet. Irgendwann antwortet er nicht mehr. Hüseyin Bayri deckt ihn mit seiner Jacke zu. Sieben oder acht Minuten hat es gedauert, erinnert er sich.

Hüseyin Bayri hatte ein normales Leben geführt. Aufgewachsen in Schwabing, Lehre zum Groß- und Außenhandelskaufmann, Job im öffentlichen Dienst, verheiratet, 29 Jahre alt. Er war nie besonders mutig gewesen, nie in außergewöhnliche Situationen geraten. "Ich bin den Dingen aus dem Weg gegangen." Er hat keine Ahnung, warum er vor einem Jahr sein Fahrrad weggeworfen und sich zu dem Jungen gelegt hat. Er weiß nicht, wie er sich das getraut hat, woher er die Kraft nahm, wo er doch selber in Todesangst war. Er hat es einfach getan, hat sich in Sekundenbruchteilen entschieden. Er hat den Jungen nicht gekannt, doch jetzt ist er mit ihm verbunden. "Er ist mir ans Herz gewachsen." Dass er weniger gelitten hat dank ihm, dass er im Sterben nicht allein war, das gibt nun ihm Trost.

Als der Vater des Jungen zum ersten Mal den Mann sieht, der seinen Sohn im Sterben getröstet hat, umarmt er ihn und weint. Die Familie lädt Hüseyin Bayri zur Beerdigung ein. Sie nehmen ihn in ihren Kreis auf, ein sehr großer Kreis, er ist das neue Familienmitglied. "Eine super Familie", sagt Bayri, "ich wünschte mir nur, ich hätte sie unter anderen Umständen kennengelernt". Heute schreiben sie einander täglich, treffen sich einmal pro Woche, gehen essen oder Kaffee trinken. Sie lachen viel. "Wir haben denselben Humor." Bei diesen Treffen reden sie über alles, "über die Welt und die Natur", nur nicht über das, was passiert ist. Man kann nicht ständig über das Schlimmste reden.

Wenn seine Frau mit ihm spricht, dann geht ihre Stimme manchmal an ihm vorbei, er schaut sie an und durch sie hindurch. Seine Therapeutin hat ihm Strategien gegen die Bilder gezeigt. Einen festen Ball kneten, bis die Hand schmerzt. Atemübungen machen. Drei Gegenstände in einer bestimmten Farbe suchen. Die Therapie hilft. Genau wie die Arbeit, sie lenkt ihn ab. Seinen alten Job konnte er nicht mehr ausüben. Seit März hat er einen neuen, im Sozialreferat, Amt für Wohnen und Migration. Seine Familie hilft, natürlich, vor allem sie. Seine Frau, seine Eltern. "Ohne sie hätte ich es nicht geschafft."

Früher hat er acht, neun Stunden durchgeschlafen, jetzt ist er froh, wenn es vier oder fünf Stunden sind. In manchen Nächten ist es nur eine Stunde gewesen im vergangenen Jahr, tagsüber war er todmüde. Um seine Augen ziehen sich rötliche Ränder, er spricht langsam, mit einer sanften Stimme. Er fährt nicht mehr Fahrrad. Wenn er im OEZ einkaufen geht, nimmt er Umwege in Kauf, um nicht an der Stelle vorbeizukommen.

Er weiß, dass sein Leben nie wieder so sein wird wie vorher

Er ist ängstlicher geworden, vorsichtiger. Er weiß noch nicht, ob er es schafft, an diesem Samstag zur Gedenkveranstaltung zu gehen. Das Denkmal für die Opfer des Amoklaufs, es steht genau neben der Stelle, an der er mit dem Jungen gelegen hat. Sein Herz rast, wenn er an den Samstag denkt. Schon das Treffen auf der anderen Straßenseite, in der Bäckerei am Haupteingang des OEZ, ist eine schwierige Übung. Wenn er rüber schaut zu dem Elektronikmarkt, "das ist ein extrem komisches Gefühl". Ein Jahr ist er nicht mehr dort gewesen.

Manchmal fragt er sich, warum er nicht einfach weggelaufen ist wie alle anderen. Und kommt dann doch zu dem Schluss, dass er richtig gehandelt hat. "Ich würde auch wollen, dass mir jemand hilft." Einen Helden haben sie ihn genannt in den Tagen danach, 2000 Facebook-Nachrichten hat er bekommen, viele von Wildfremden. Einige Fernsehsender interviewten ihn, vor allem ausländische. Irgendwann hatte er genug, er buchte kurzerhand einen Flug in die Türkei. In der Provinz Kayseri in Mittelanatolien quartierte er sich bei seiner Großmutter ein. "Es ist dort extrem ruhig, mehr Kühe auf den Straßen als Menschen." Die Auszeit hat ihm gut getan.

Ein Jahr nach dem Amoklauf geht Hüseyin Bayri noch immer durch eine sehr dunkle Phase. Die Frage ist, wie lange sie noch andauert. Er weiß, dass sein Leben nie wieder so sein wird wie vorher. Aber es geht weiter. Im Juli 2016 war seine Frau schwanger, sie wussten es noch nicht. Am 25. März 2017 gebar sie einen Sohn. Eine Weile dachte Bayri darüber nach, ihn nach dem Jungen zu nennen. "Aber das wäre zu extrem gewesen, dann könnte ich es nie loswerden." Am Tag nach der Geburt kam seine neue Zweitfamilie ins Krankenhaus und gratulierte den beiden. Der Sohn trägt nun den Namen Mert, "der Tapfere". Er ist vier Monate alt.

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