Sat.1-Jahresrückblick:Verkrampfte Effekthascherei

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Jede Menge Sport-Smalltalk, noch mehr Effekthascherei und eine überstrapazierte Tränendrüse: Viel Zirkus um das alte Jahr und Lacher, für die Moderator Johannes B. Kerner gar nicht verantwortlich war.

Kathrin Hollmer

"2010, ein Jahr voller Emotionen". Das ist leicht dahingesagt und gilt eigentlich für jedes Jahr. Johannes B. Kerner hat sein Versprechen für den Jahresrückblick am gestrigen Donnerstag allerdings etwas zu wörtlich genommen und verließ sich ganz auf viel Tränendrüsiges.

Arbeitsteilung bei Sat.1: Johannes B. Kerner (links) war für die Emotionen zuständig, Oliver Pocher (rechts) für die auflockernden Witzchen. (Foto: Getty Images)

Immerhin, Kerners Blick zurück auf Sat.1 war der erste seiner Art und läutete bereits am 2. Dezember die Reihe der Retrospektiven ein. Die Frage, ob man da nicht fast einen ganzen Monat vergisst, ist berechtigt. Aber dazu später. In der Flensburger Campushalle empfing Kerner als erste Gäste des Abends die Fußballnationalspieler Arne Friedrich und Marcell Jansen, Mesut Özil war über eine Leinwand zugeschaltet. Mit Gratis-Vuvuzelas (das Geräusch wird nicht angenehmer), Shakiras Waka Waka und den Orakeln von Paul, der Krake, wurde das Publikum emotional in die WM-Stimmung zurückgebeamt. Die Fußballer ließen sich von Kerner zu keinen großen Worten hinreißen, weder über ihren Flug nach Südafrika mit Shakira noch Özils Auftritt mit entblößtem Oberkörper, als ihm Angela Merkel zur erfolgreichen WM gratulierte. So eine Einsilbigkeit duldete Kerner nicht lange, der Zirkus sollte schließlich weitergehen: Daher mussten Jansen und Friedrich an einer Spielkonsole gegeneinander Fußball spielen, dann wurde die größte Deutschlandfahne der WM samt Besitzer bestaunt.

Katastrophen im Filmchen

Geradezu nahtlos wechselte Kerner zu Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab, der wie die Missbrauchsvorwürfe in der katholischen Kirche, Griechenlands Bankrott und Stuttgart 21 in einem Filmchen abgearbeitet wurde, ebenso die Katastrophen aus dem Jahr 2010: Erdbeben und Cholera in Haiti, die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko und die Rettung der 33 verschütteten Bergarbeiter in Chile. Mario Gomez, der älteste der geretteten Bergleute aus Chile nahm als nächster auf Kerners Couch Platz, ebenso der Kumpel Ariel Ticona mit seiner Frau und der Tochter Esperanza, die zur Welt kam, als er verschüttet war. Fußballnationalspieler Mario Gomez sprach über eine Leinwand auf Spanisch zu seinem Namensvetter und wünschte ihm Glück. Der Bergarbeiter Gomez kämpfte dabei mit den Tränen und Kerner war sichtlich zufrieden über "so viele gezeigte Emotionen".

Zu derart vielen emotionalen Momenten passte Veronica Ferres. Warum die Schauspielerin sonst zum Jahresrückblick 2010 eingeladen war, blieb unklar. Vielleicht war sie zwischen den ganzen männlich dominierten Themen eine Alibifrau. Kerner war das egal, er säuselte in die Kamera, dass Ferres für ihn die Schauspielerin des Jahres, ach, eigentlich jedes Jahres, sei. Warum, verriet er nicht. Kurzer Smalltalk über Fußball und Kino, dazu ein Überblick über die wichtigsten Filme 2010. Nach sechs Minuten hatte Ferres auch schon wieder Sendepause.

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Eingewechselt wurde die Politikerin des Jahres, Hannelore Kraft, zusammen mit ihrem Sohn Jan. Die Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen und aktuelle Bundesratspräsidentin sorgte für den ersten und einen der wenigen Lacher des Abends. Auf die Frage, ob sie Bundespräsidentin werden wolle, antwortete sie, sie hoffe, dass Christian Wulff in seinem Amt durchhält, und ergänzte: "Ich habe genug zu tun." Die Politikerin war vor allem in ihrer Rolle als Mutter eingeladen. Ihr Sohn hatte bei der Loveparade in Duisburg die Massenpanik mit 21 Toten hautnah erlebt. Eingeblendet wurde Krafts Rede an die Hinterbliebenen der Opfer, als sie mit den Tränen kämpfte - Emotionen, wie Kerner sie liebt. Gespannt warteten die Zuschauer aber auf Rainer Schaller, den Geschäftsführer des Loveparade-Veranstalters. Er sprach erstmals mit einem Opfer und einer Hinterbliebenen und entschuldigte sich: "Es tut mir unendlich leid, ich kann es nicht rückgängig machen", sagte er. Es sei ihm bewusst, dass er eine moralische Verantwortung trage.

Gastmoderator und Sat.1-Kollege Oliver Pocher lenkte mit seiner albernen Art von der bedrückten Stimmung ab. Er interviewte Passanten zum Thema Boulevard, stellte Fragen zu den wichtigsten Personen des Jahres und ließ Fotos erkennen, zum Beispiel von König Carl XVI. Gustaf. Als ein Befragter zögerte, verriet Pocher mit "Schwedens Königshaus" einen Hinweis. Die Antwort: "Ah, Puff!" Ähnlich derbe Späße folgten. Im Promi-Quiz wurde er von Veronica Ferres mit 5:2 besiegt, die sich noch schnell ein wenig blamierte: Auf die Frage, auf welchem Cover Claudia Schiffer nackt mit Babybauch posierte, meinte die Schauspielerin doch wirklich: "Quellekatalog ... äh ... Elle?" Natürlich war's die Vogue.

Alle sangen mit

Ein Kurzfilm über die Songs des Jahres leitete den nächsten Act ein: Die Band Unheilig - als erster Musikauftritt zwar sehr spät, dafür war deren weichgespülter Herzschmerz-Song ganz in Kerners Sinn, sogar Ferres und Kraft sangen mit.

Politisch fasste ein Film Köhlers und Kochs Rücktritte, Guttenbergs Aufstieg und Wulffs Wahl zum Bundespräsidenten zusammen. Der Verlierer der Wahl, Joachim Gauck, nahm auf Kerners Couch Platz: Ob er froh sei, dass "der Kelch an ihm vorübergegangen ist?" Er antwortete, er wäre keinen Moment unglücklich gewesen, weil er dadurch noch machen könne, was er wolle. Weil Kerner bei Gauck weder sportliche Vergleiche noch Tränen witterte, durfte er nur wenige Minuten reden. Schade eigentlich.

Nach einer Sammlung an prominenten Prozessen wie um Nadja Benaissa und Jörg Kachelmann folgte ein Video über Umweltphänomene wie Tief Daisy und den Vulkan Eyjafjallajökull sowie ein wenig spektakulärer Auftritt der Fantastischen Vier. In einem weiteren Film wurden noch schnell Margot Käßmann, Lena Meyer-Landrut und Sebastian Vettel abgehakt sowie die Geschichte des Torreros Julio Aparicio: Der letzte Gast im Studio wurde im Mai 2010 von einem Bullen beim Stierkampf angegriffen, der seinen Unterkiefer durchbohrte. Ein Foto von diesem Unfall ging um die Welt. Auf Kerners Frage, was er zu Leuten sage, die meinen, er hätte das verdient, sagte er nur, dass er weitermachen werde: "Das ist meine Berufung."

Einer fehlt

Richtig "emotional" wurde es noch einmal am Schluss, als zu Leonard Cohens Song Hallelujah die Verstorbenen des Jahres gezeigt wurden, darunter Alexander McQueen, Tony Curtis und - als Abschluss - Loki Schmidt. Zwischen dem ganzen höchst emotionalen Striptease, der bisweilen durchaus angestrengt wirkte, wurde eine Sache übersehen: Wikileaks und die Enthüllungen der umstrittenen Internetplattform des Australiers Julian Assange. Oder rächt es sich am Ende doch, den Jahresrückblick schon im November zu drehen? Günther Jauch, Thomas Gottschalk und Tom Buhrow warten immerhin noch ein paar Tage.

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