Presse zur Bundestagswahl:Schluss mit "großkoalitionärer Kuschelpolitik"

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Angela Merkel steht vor ihrer vierten Amtszeit als Kanzlerin. Das ist vielen Medien zufolge aber auch das einzig Positive am Wahlausgang. Ein Blick in die Presse.

CDU-Chefin Angela Merkel bleibt zwar Kanzlerin, muss aber eine herbe Niederlage einstecken. So lautet der Tenor in nationalen und internationalen Medien über den Wahlausgang. Dass die AfD nun im Bundestag sitzt, bewertet die Presse hingegen unterschiedlich.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird Kanzlerin Merkels Status als "Mutter der Nation" hervorgehoben.

"Merkel hat doch nicht so viele Wähler becirct, wie es noch bis vor vier Wochen aussah, weswegen sogar die CSU mit dem Konterfei der Kanzlerin warb. Ihre Popularität hatte nach dem Tief im Flüchtlingsherbst alte Höhen erklommen, weil Deutschland sich im Meer der Krisen wie eine Insel der Glückseligen ausnimmt: politisch stabil, ökonomisch gesund. Schulz gelang es nicht, die hier und da glimmende Unzufriedenheit zu einer Wechselstimmung anzufachen. Die Wähler nahmen ihm einfach nicht ab, dass die SPD vier Jahre lang in der Opposition gewesen sei."

Beunruhigendere Worte finden sich in der Zeit.

"Diese Wahl ist eine Warnung. Rechtsextremisten ziehen in den Bundestag ein. Sie werden parlamentarische Mitarbeiter bekommen, Geld, Geheimdienstinformationen. Und wenig spricht dafür, dass sie und ihre Partei wieder aus dem Parlament verschwinden werden. "

Trotz des Wahlsiegs der AfD konstatiert das Blatt ernüchtert:

"Ein Umbruch sieht anders aus. Man vergleiche dieses Wahlergebnis bloß mit den jüngsten Wahlen in den USA, Frankreich, Polen oder England. Die Wahlkämpfe unserer Nachbarn und Verbündeten waren von harten ideologischen Konflikten geprägt und hatten meist den Austausch der politischen Elite zur Folge. Verglichen damit ist Deutschland ein Hort der Stabilität."

Als herbe Schlappe für die Union empfindet die österreichische Zeitung Die Presse den Wahlausgang.

"Lang jedoch wird es nicht dauern, bis sich innerhalb der Union die Mäkler und Meckerer formieren. Das Wahlergebnis ist in Anbetracht der hervorragenden Wirtschaftsdaten schwach. Und für die CDU/CSU stellt es eine strategische Katastrophe mit potenziell verheerenden Langzeitfolgen dar, dass Merkel rechts von ihr so viel Platz für eine neue Partei geschaffen hat. Die AfD hat nun alle finanziellen und medialen Möglichkeiten, den Bundestag als Bühne zu nutzen, um Wurzeln zu schlagen. Die Union wird eine Antwort auf die AfD finden müssen. Weiter nach links zu driften und das konservative Feld ganz aufzugeben, wird vermutlich kein Erfolgsrezept sein."

Der Standard, ebenfalls aus Österreich, fühlt sich angesichts der Reden vieler AfD-Vertreter an Deutschlands Vergangenheit erinnert.

"Das Parlament wird es überleben. Ist in anderen Parlamenten Europas ja auch schon geschehen, könnte man sagen. Oder: Deutschland ist ohnehin lange ohne eine rechte Gruppierung im Bundestag davongekommen. Doch wenn man hört, was viele dieser AfD-Leute von sich geben, mit welcher Selbstverständlichkeit von 'ausmisten', von Ausgrenzung und von 'Schluss mit dem Schuldkult' die Rede ist, wird einem übel. Man darf niemals vergessen: Das alles passiert in jenem Land, von dem der Naziterror einst ausging. Nun sitzen diese Volksvertreter im Bundestag, dem Herzstück der Demokratie, und werden dort ihre Reden halten."

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Die Wähler in Deutschland wollen sich der Neuen Zürcher Zeitung zufolge "nicht von grosskoalitionärer Kuschelpolitik einschläfern lassen". Aber ein neuer Kanzler wäre dann doch ein zu großes Wagnis gewesen, heißt es weiter:

"Merkel und Deutschland und Erfolg, das ist fast eins. Eine ganze Generation junger Wähler ist herangewachsen, die gar nichts anderes in ihrem bewussten Leben kennengelernt hat. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die Mehrheit der Wähler kein Interesse hatte, das Experiment eines neuen Bundeskanzlers zu wagen."

Angesichts des Aufstiegs der AfD schlägt der britische Guardian eher beruhigendere Töne an. Der Erfolg der Rechtspopulisten sei zwar zweifellos besorgniserregend. Beschere er Deutschland doch ein toxisches und polarisierendes Element, das jeden, der einer liberale Demokratie verbunden sei, mit Sorge erfülle. Aber, man sollte nicht überreagieren, heißt es weiter. Dass Deutschland zu den Geistern von einst zurückkehre, wäre zu viel:

"Deutschlands Demokratie ist entscheidend für die Stabilität in Europa und seiner Zukunft. Mit dem Aufstieg der AfD hat die deutsche Gesellschaft zwar ein verbeultes Schild, aber kein zerbrochenes. In einem unvorhersehbaren globalen Umfeld gibt es wohl mehr beruhigende Aspekte in diesem Wahlausgang als beunruhigende. Die AfD wird kein definierender Faktor für die Politik Deutschlands sein, ob auf europäischer oder globaler Bühne. Alle deutschen Parteien widerstehen der gifitigen Botschaft der AfD. Sie wird politisch isoliert bleiben."

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Die französische Le Monde sieht Merkels Wahlergebnis als verheerender als 2009 an.

"Wiedergewählt für eine vierte Amtszeit zieht die Kanzlerin mit Konrad Adenauer und Helmut Kohl gleich. Aber (...) das enttäuschende Ergebnis der deutschen Konservativen könnte schlimmer sein als das historische Tief von Frau Merkel in 2009."

Die Stabilität ist dahin, heißt es im italienischen Corriere della Sera. Mit der AfD, dem großen Gewinner der Wahl, ist das traditionelle politische System auf den Kopf gestellt. Und die beiden großen Parteien können die Politik nach 60 Jahren nicht mehr exklusiv für sich beanspruchen:

"Deutschland steht nicht nur aufgrund seines ökonomischen Status und seiner geografischen Lage im Zentrum Europas und der Welt. Sondern auch, vielleicht vor allem, wegen seiner sozialen und politischen Stabilität unter Angela Merkel. Diese Charakteristiken sind nach der Wahl zwar nicht verschwunden, aber weniger sicher geworden. Das politische Erdbeben in Deutschland wird auch nicht unwichtige Wellen ins restliche Europa schlagen. Deutschland ist nun 'normaler', mit ähnlichen Problemen wie in den anderen Ländern. Ein Problem, das alle angeht, nur noch nicht so drängend ist."

Ähnlich wie schon der Guardian feiert auch die spanische El País die Bundeskanzlerin als Garant für Stabilität in Europa.

"Die Extremen beiseite - ein großer Teil der Deutschen hat für die Kontinuität gestimmt. Merkel steht noch immer für viele Bürger für Stabilität in einer zitternden Welt, bewohnt von Trump, Erdoğan und Kim Jong-un. Sie steht für das notwendige Durchsetzungsvermögen und die Stärke, um den internationalen Herausforderungen die Stirn zu bieten."

Auf die problematische Regierungsbildung weist die New York Times hin:

"Trotz ihres Sieges können Frau Merkel und die Konservativen nicht alleine regieren, was es wahrscheinlich macht, dass das politische Leben der Kanzlerin komplizierter wird. Die Form und die Inhalte einer neuen Regierungskoalition werden Wochen mühsamer Verhandlungen beanspruchen."

Als Denkzettel für Angela Merkel versteht die Washington Post die extremen Ansichten der AfD:

"Gauland und andere AfD-Kandidaten machten während der gesamten Kampagne Schlagzeilen, die weithin als empörend wahrgenommen wurden. Doch einige ihrer Wähler äußerten am Sonntag die Hoffnung, dass dieses Profil ihrer Partei Merkel dazu zwingen wird, ihre Politik der jüngeren Vergangenheit zu ändern."

Mit Material der Agenturen

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