ESC-Gewinner Salvador Sobral:Europa stimmt für die Musik - und gegen Fast Food

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Salvador Sobrals Stimme ist ein Uhrmacherwerkzeug zwischen all den Vorschlaghämmern. Beim ESC siegt einmal nicht die konstante Überwältigung.

Von Julian Dörr

Als Salvador Sobral an diesem Abend zum ersten Mal seine Stimme hebt, ist da eigentlich kaum eine Stimme. Die Hände vor der Brust gefaltet, der Kopf leicht in den Nacken geworfen, der Blick jenseitig zum Hallenhimmel gerichtet. Ganz sacht atmet Sobral seine Worte und Töne aus, haucht sie zögerlich ins Publikum - als müsse er fürchten, dass das Licht von Hunderten Smartphonetaschenlampen um ihn herum die zarten Töne trifft und sie gnadenlos zerstäubt.

Zuhause vor dem Fernseher kramt man nervös zwischen Sofakissen und Snack-Schüssel nach der Fernbedienung und: klick, klick, klick - Lautstärke hoch. In dieser einfachen Bewegung liegt nun die ganze Sensation von Salvador Sobral, des ersten portugiesischen Gewinners des Eurovision Song Contest.

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Die Kandidaten versuchen beim ESC, die Zuschauer mit spektakulären Auftritten zu überzeugen - das bringt nicht immer Punkte. Die Bilder aus Kiew.

Für gewöhnlich folgt der große europäische Gesangswettbewerb der Sounddramaturgie eines Hollywood-Blockbusters. Die Actionsequenzen immer auf Anschlag, der ruhigere Rest runtergemischt. Damit es richtig knallt, wenn es richtig knallt. Man muss den ESC und seine musikalischen Darbietungen als eine Aneinanderreihung eben jener Actionsequenzen verstehen. Konstante Überwältigung. Wenn das EDM-Keyboard gegen das Hirn pocht und der Eurodance-Beat aus den Boxen drückt, geht die Lautstärkeanpassung auf dem Fernsehgerät eigentlich so: runterdimmen für die Lieder, hoch fürs Gequassel der Moderatoren.

Der Kopf zu groß für den Körper, der Körper zu groß für das Sakko

Mit Salvador Sobral ist nun alles anders. Der 27-jährige Portugiese ist die große Sensation des ESC-Abends in Kiew. Eine Überraschung ist er nicht. Vor dem Finale sahen ihn die Buchmacher schon gleichauf mit den Topfavoriten aus Italien und Bulgarien. Sobral ist dennoch ein äußerst unwahrscheinlicher Gewinner.

Schon seine Bühnenpräsenz zwischen all den anderen Kandidaten: die Schöne und das Biest im Rap/Jodel-Battle, ein janusköpfiger Operntenor, ein Mann mit Pferdekopf auf einer Heimwerkerleiter, Glitzerkanonen, Laufbänder, hochgequetschte Brüste. Und Sobral? Steht da mit hochgezogenen Schultern im Bühnenkreis. Mit Zauselbart und Haarzöpfen. Der Kopf zu groß für den Körper. Der Körper zu klein für das Sakko. Und dann diese Bewegungen. Sobrals Hände streicheln die Töne, ringen mit der Musik. Da weht der Geist des Fado, Leidenschaft und Schmerz. Aber eigentlich steht auf dieser Bühne ein nuancierter Jazzsänger, der Dynamik versteht und Modulation, der seine Stimme benutzt wie ein Uhrmacherwerkzeug und nicht wie einen Vorschlaghammer.

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Salvador Sobral wird 1989 in Lissabon geboren, er entstammt einer alten portugiesischen Adelsfamilie. Im Alter von 19 Jahren tritt er in der Castingshow Ídolos auf und belegt den siebten Platz. Bald bricht er sein Psychologie-Studium ab. Sobral will Musiker werden und studiert Jazz an der renommierten "Taller de Músics" in Barcelona. Sein großes Vorbild ist der 1988 verstorbene Jazzmusiker Chet Baker. Dessen Einflüsse hört man auch auf Sobrals Debütalbum "Excuse Me", das 2016 erscheint. Der junge Portugiese arbeitet eng mit dem venezolanischen Komponisten Leonardo Aldrey zusammen. Und mit seiner älteren Schwester, der Jazzmusikerin Luísa Sobral. Sie ist es, die ihrem Bruder das Lied "Amor pelos dois" schreibt. Und die ihn bei den ersten Proben in Kiew sogar vertritt, weil er wegen einer Krankheit ausfällt.

Nach verzögertem Start hat sich Salvador Sobral von Probe zu Probe, vom Halbfinale über das Finale, immer mehr eingefühlt in die Rolle des musikalischen Sonderlings, die er in diesem ESC gespielt hat. Er hat eine fragile Jazznummer zum Sieg geführt, vorbei an all den anderen Planierraupen-Produktionen. Er hat seinen Song variiert, nicht zweimal hat er ihn gleich gesungen. "Wir leben in einer Welt der Wegwerfmusik, eine Welt, in der Musik nicht mehr ist als Fast Food", sagt Sobral am Ende. "Aber Musik ist kein Feuerwerk, Musik ist Gefühl. Lasst uns versuchen, etwas zu ändern und die Musik zurückzubringen."

Als die vorletzten Punkte des Abends an Bulgarien vergeben werden und der junge Kristian Kostov für ein paar Sekunden in der Wertung an Salvador Sobral vorbeizieht, schüttelt der Portugiese nur mahnend den Kopf. Bloß nicht zu früh freuen. Und selbst als er dann Augenblicke später als Gewinner feststeht, schleppt sich Sobral mehr auf die Bühne, als dass er schreitet wie der Triumphator, der er an diesem Abend eigentlich ist. 758 Punkte, fast 150 Vorsprung auf Kostov. Ein klarer Sieg. Sowohl bei den Jurys als auch beim Publikum. Europa hat für die Musik gestimmt und gegen das Fast Food.

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