Wohnungslose:Neu leben lernen

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Oft zwingen Armut, Krankheit oder Sucht Menschen dazu, das Dach über dem Kopf gegen Zelte und Brücken zu tauschen. (Foto: Maja Hitij/Getty Images)

Die Zahl der Obdachlosen in Deutschland hat sich fast verdoppelt. Für viele ist die Rückkehr in ein Zuhause schwierig. Sie wissen nicht mehr, wie man wohnt.

Von Thomas Hahn

Detlef Garnitz hat zwei gelähmte Arme. Er kann deshalb keine Bierflaschen mehr halten und auch nicht mehr so frühstücken, wie er früher gefrühstückt hat. Früher, als Detlef Garnitz noch in einer unbeheizten Lagerhalle in Kiel-Suchsdorf übernachtete, führte ihn sein erster Weg am Morgen zum Supermarkt. Frühstück holen, genauer gesagt: Bier holen. Zwei Flaschen trank er zum Einstieg in den Tag. Was es zu essen gab? "Wenig." Das Bier war der Stoff, der ihn darüber hinwegtröstete, dass er keine Arbeit und keine Wohnung mehr hatte, und dass für ihn alles immer schlechter wurde.

Garnitz glaubt, dass man ohne Alkohol nicht auf der Straße leben kann. "Das ist ein Rettungsanker irgendwie", sagt er. Als seine Arme nach diversen Unfällen und Operationen keine Kraft mehr hatten und er weder Anträge auf Sozialleistungen ausfüllen noch Bierflaschen halten konnte, war seine Existenzgrundlage weg. Da verstand er, dass seine letzte Überlebenschance darin bestand, Hilfe anzunehmen.

Der gelernte Schlosser Detlef Garnitz, 54, freundliche Augen, Vollbart, gealtertes Jungengesicht, ist ein Wohnungsloser in stationärer Betreuung. Er ist ein Klient der "stadt.mission.mensch", einer gemeinnützigen GmbH in Kiel, die wie viele andere in Deutschland bedürftigen Menschen Hilfe zur Selbsthilfe anbietet.

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Bei Detlef Garnitz sieht diese Hilfe so aus, dass er ein Zimmer im Van-der-Camer-Haus in Kiel bewohnen darf, seine Mahlzeiten bekommt, seine Pflege, seine Therapien. Die Bedingung ist, dass er mitmacht, seine Termine einhält, sich seiner Alkoholsucht bewusst ist und trocken bleibt. Garnitz muss sich auf die Ordnung einlassen, die um ihn herum ist, seit er vor eineinhalb Jahren in das Haus zog. Er muss die Wirklichkeit auch ohne Rausch ertragen.

"Es geht bei ihm um die Frage, was mache ich mit mir und meinem Alltag", sagt der Sozialarbeiter Rainer Reber. Das ist nicht einfach. Und Garnitz ist sicher nicht der schwierigste Fall, den Reber und seine vier Kollegen in der Kieler Lerneinrichtung für Wohnungslose betreuen.

Den meisten erschwert ihre Persönlichkeit ein geregeltes Leben

Obdachlosigkeit ist ein zunehmendes Problem. "Bundesweit hat sich die Zahl der Wohnungslosen in den letzten Jahren fast verdoppelt", sagt Karin Helmer, Geschäftsführerin bei stadt.mission.mensch. Allein in Kiel haben 600 Menschen keinen festen Wohnsitz, 2012 waren es 300, und Karin Helmer kann eine ganze Liste an Negativfaktoren aufzählen, die zu diesem Trend beigetragen haben: die Armut, die Zuwanderung, die Vereinsamung, die Zahl der psychisch Kranken, die Zahl der Suchtfälle - alles steigt. "Und der bezahlbare Wohnraum wächst nicht in der gleichen Geschwindigkeit mit."

Gerade Kiel sieht sich offenbar unter Druck: Sozialdezernent Gerwin Stöcken (SPD) plant, die volle Obdachlosenhilfe künftig nur noch echten Kielern zu gewähren. Beschlossen ist noch nichts, aber Kritik wurde schon laut: In den Kieler Nachrichten nannte Thomas Specht, Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, das Vorhaben "komplett rechtswidrig".

Aber auch sonst lässt sich streiten über die Frage, wie man Menschen in prekären sozialen Lebenslagen am besten hilft. Muss man sie mehr fordern, damit sie sich auch selbst aus dem Schlamassel ziehen? Oder schreckt das gerade junge Wohnungslose davon ab, sich helfen zu lassen?

Sozialarbeiter Rainer Reber kennt die Debatte. Und er kann nicht behaupten, dass die stationäre Wohnungslosenhilfe bei allen so beliebt ist wie bei Detlef Garnitz. 38 Klienten befinden sich derzeit in dem Kieler Projekt. Die wenigsten haben ein so unübersehbares Problem wie Garnitz. Die meisten sind wohnungslos, weil ihre Persönlichkeit ein geregeltes Leben erschwert - darunter junge Erwachsene mit Drogen-Karriere und ohne Schulabschluss, entlassene Häftlinge oder Betroffene des Messie-Syndroms, die ihre Wohnung vermüllen lassen. "Wir haben hier Menschen mit den unterschiedlichsten Problemkonstellationen", sagt Reber.

Über ambulante Beratungsstellen sind sie in die stationäre Betreuung gekommen. Dort müssen sie ihr Problem oft überhaupt erstmal als Problem erkennen. Das ist anstrengend, und viele sehen nicht ein, dass dabei ständig Sozialarbeiter durch ihre Privatsphäre stapfen. "Wir sind sehr dicht dran an ihrer Lebenssituation", sagt Reber, "manch einem zu dicht." Manchmal endet die Betreuung deshalb vorzeitig.

Der Weg aus der Wohnungslosigkeit führt nicht nur über niedrige Mieten. Sondern auch über die Seelen der Menschen, die wegen sogenannten mietwidrigen Verhaltens ihre Wohnung nicht halten konnten oder nie eine hatten. Sie müssen das Wohnen tatsächlich erst einmal erlernen. Wie hält man Räume sauber? Wie kauft man ein? Wie geht man mit Geld um? Wie gibt man dem Tag eine Struktur? "Es geht um das ganze Spektrum des Haushaltsbewusstseins", sagt Reber, "gerade die jungen Klienten sagen dazu oft: Was will der? Das ist doch alles selbstverständlich. Aber mitnichten ist das selbstverständlich."

"Wir müssen den Leuten hier einen Tag anbieten"

Die Kieler Wohnungslosen, die sich auf das stationäre Angebot einlassen, durchlaufen eine umfassende Lebensschule - ohne Schulbänke und Tafelbilder versteht sich. "Wir müssen den Leuten hier einen Tag anbieten", sagt Reber. Der Unterricht ist sozusagen eine Simulation der Wirklichkeit zu Übungszwecken.

Die Klienten wohnen an vier verschiedenen Standorten in der Stadt, damit sie nicht das Gefühl haben, im Heim zu leben. Manche sind eingebunden in ein Beschäftigungsprogramm, das vor allem handwerkliche Tätigkeiten vorsieht, zum Beispiel in einer Werkstatt zur Reparatur alter Möbel. Manche durchlaufen berufliche Fördermaßnahmen des Arbeitsamtes oder holen einen Schulabschluss nach. Dazu kommt die Arbeit mit Sozialarbeitern und Psychologen. Einzelgespräche. Gruppengespräche. Immer wieder. Um sich eine Welt ohne Zwangshandlungen, Rausch oder gewaltsamen Streit zu erschließen.

Zu schwach zum Biertrinken. Garnitz lächelt

Die Wohnungslosen der stationären Betreuung passen oft nicht gut zusammen und ihre Nerven sind angespannt. "Das ist auch unsere Aufgabe", sagt Reber, "die immer wieder auftretenden Konfliktsituationen zu moderieren." Nicht jeder ist so duldsam wie Detlef Garnitz. Auch er klingt ein bisschen verzweifelt, wenn er von einer Mitbewohnerin erzählt, die beim Frühstück immer dieselben Klagen vorbringt. Aber er erträgt es. So wie er alles ertragen hat, was in seinem Leben passiert ist, seit die überforderten Eltern ihn einst aus Thüringen mit zwei seiner neun Geschwister ins Kinderheim nach Husum schickten.

Er ist ein Mann mit Humor. Lange trank er gegen den Durst nichts als Bier, weil er fand: "Wasser ist zum Waschen da." Andere Wohnungslose stürzen sich von der Kieler Hochbrücke, wenn sie nach einem normalen Arbeitnehmerleben alles verloren haben. Detlef Garnitz ist geblieben, und mit fast kindlichem Vergnügen am Leben geht er nun auch mit seiner Behinderung um, den tauben Armen, die schlaff um seinen Oberkörper baumeln. "Die Flaschen kann ich nicht mehr halten", sagt er. Zu schwach zum Biertrinken. Er lächelt. Seltsame Geschichte. Irgendwie hilft sie ihm dabei, besser leben zu lernen.

© SZ vom 21.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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