Kriminalität:Erniedrigt, verprügelt, getötet: Gewalt gegen Obdachlose nimmt zu

Bettlerin in Berlin

Alltag in Berlin: Eine Bettlerin neben Fußgängern.

(Foto: dpa)
  • Brutale Gewalt gegen Obdachlose nimmt in Deutschland immer mehr zu. Im vergangenen Jahr gabes nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) sogar 17 Todesfälle.
  • Die Gewalt geht dabei sowohl von anderen Obdachlosen als auch von Menschen, die selbst nicht auf der Straße leben.
  • Um Obdachlose besser zu schützen, fordern Interessenverbände eine konsequente Strafverfolgung.

Von Antonie Rietzschel, Berlin

Prügeleien waren für Angelika Krüger jahrelang Alltag. Zwischen 2000 und 2003 lebte sie auf der Straße, ihr Zuhause war der Hauptbahnhof in Kassel. Für die anderen Obdachlosen war sie eine Konkurrentin, im Kampf um warme Plätze und Almosen. Sie versuchten, die damals junge Frau zu vertreiben. Mit Gewalt. Einmal steckte ein Messer zwischen ihren Rippen.

Angelika Krüger hatte auch Kumpels, die ihr zeigten, wie man richtig zuschlägt. Das verschaffte ihr Respekt, schützte sie jedoch nicht vor den Demütigungen der Menschen, die sie wegen ihrer Obdachlosigkeit verachteten. Die ihr sagten, sie sei zu faul zum Arbeiten. Dabei war sie zu krank. Krebs. Eines Nachts wurde sie von einer Gruppe Jugendlicher vergewaltigt. "Die haben geglaubt, sie können das einfach mit mir machen, weil ich obdachlos bin. Nichts Wert", sagt Angelika Krüger. Sie lebt heute in Berlin in einer Wohnung, die ihr die Stadtmission stellt.

Obdachlose habe viele Feinde: Hunger, Kälte, Krankheiten. Hinzu kommt die Gewalt. Geschichten wie die von Angelika Krüger gibt es in ganz Deutschland Hunderte, wenn nicht sogar Tausende. Anfang des Jahres warnte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) vor der anhaltenden Gewalt gegen Obdachlose. 2016 zählte sie 128 Fälle von Körperverletzungen, Vergewaltigungen, Raubüberfällen und bewaffneten Drohungen. 17 Menschen starben. Die Dunkelziffer dürfte weit höher sein, denn die BAGW bezog sich in ihrer Zählung nur auf Medienberichte. Diese thematisieren jedoch nur besonders krasse Taten.

Die Auslöser für Streit sind vielfältig

Zur traurigen Wahrheit gehört, dass die Gewalt in vielen Fällen von Obdachlosen selbst ausgeht. Dieter Puhl leitet die Bahnhofsmission am Berliner Bahnhof Zoo, ein überlebenswichtiger Anlaufpunkt für Obdachlose. Puhl und seine Mitarbeiter sprechen lieber von Gästen. Es ist eine Respektsbekundung gegenüber Menschen, die Ablehnung gewohnt sind. Bei der Bahnhofsmission können die Gäste drei Mal am Tag essen, sie können duschen oder sich die Haare schneiden lassen. Sie bekommen Kleidung und Beratung.

700 Menschen suchen jeden Tag die Bahnhofsmission auf, viele kommen aus Osteuropa. Die einen sind Alkoholiker, andere drogensüchtig, psychisch krank oder alles zusammen. Ärger ist da programmiert. "In einer schlechten Woche haben wir hier 15 Polizeieinsätze", sagt Dieter Puhl. Die Auslöser für Streit können vielfältig sein: Neid auf den besseren Platz in der Schlange vor der Essensausgabe, Geld, ein falscher Blick.

"Wenn ein Mensch auf der Straße leben muss, dann macht das etwas Schlimmes aus ihm", sagt Brigitte Marx. Sie ist seit 15 Jahren obdachlos und wie Angelika Krüger Gast der Bahnhofsmission. Das Leben auf der Straße ist für Frauen gefährlicher als für Männer. Sie sind häufiger Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch. Brigitte Marx kann sich mit ihren 66 Jahren nicht mehr gegen jede Attacke wehren. Sie sucht deswegen immer öffentliche Plätze auf, um im Zweifel Hilfe holen zu können. Wenn Brigitte Marx die Nacht draußen verbringen muss, schläft sie kaum. Aus Angst, sie könnte überfallen werden - oder Opfer einer Demütigung. "Als ich vor kurzem in einer Bushaltestelle geschlafen habe, kam da einer und hat mich einfach angepinkelt."

Abwertung von Obdachlosen in der Bevölkerung weit verbreitet

Die BAGW beunruhigt vor allem die Zahl der Gewalttaten, die Menschen begehen, die nicht auf der Straße leben. Bei den für 2016 gezählten Delikten waren die Täter in 52 von 128 Fällen keine Obdachlosen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und damit auch die Abwertung Obdachloser ist innerhalb der gesamtdeutschen Bevölkerung weit verbreitet.

In vielen Städten endet in diesen Tagen der Kälteschutz. Viele Obdachlose, die aufgrund niedriger Temperaturen in Notunterkünften übernachten konnten, müssen nun wieder auf der Straße schlafen. Damit sind sie rechtsextremen und menschenverachtenden Anfeindungen offen ausgeliefert, die auch tödlich enden können. Initiativen gehen davon aus, dass seit 1990 ungefähr 35 Obdachlose durch rechtsextreme Gewalt gestorben sind. Gesellschaftlich ohnehin ausgegrenzt, gelten sie als einfache Opfer, an denen sich die eigene Überlegenheit demonstrieren lässt: Im Mai 2011 starb der alkoholkranke Obdachlose André K., nachdem ihn sechs Männer verprügelt hatten. Bei mehreren der später ermittelten Tatbeteiligten gibt es Hinweise auf eine rechtsextreme Gesinnung. Einer von ihnen erklärt, er habe André K. "auf die Schnauze hauen" wollen, weil dieser stinke und kein Zuhause habe.

Um Obdachlose besser schützen zu können, fordert die BAGW eine konsequente Strafverfolgung. Doch häufig bringen Obdachlose Angriffe erst gar nicht zur Anzeige. Scham spielt eine Rolle, aber auch Misstrauen gegenüber den Behörden. Das Fehlen eines festen Wohnsitzes macht es Polizei und Staatsanwaltschaften wiederum schwer, im Kontakt mit Betroffenen zu bleiben. Die BAGW fordert außerdem Wohnungen für alle Obdachlosen und damit einen geschützten Raum.

Dieter Puhl von der Bahnhofsmission hat noch einen weiteren Vorschlag. Bei ihm am Bahnhof Zoo helfen jährlich 500 Ehrenamtliche, 150 Praktikanten. 270 Menschen leisten bei Puhl Sozialstunden. Letzteres würde er sich auch als Bestrafung für die sechs syrischen Jugendlichen wünschen, die vor Weihnachten versucht hatten, einen Obdachlosen anzuzünden. "Wer mal hier war und das Leid sieht, der macht so was nicht."

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