Sicherheitsgefühl in Deutschland:Die Angst hat sich verändert

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Die Kriminalstatistik sagt: Die Gewaltkriminalität geht zurück. Doch das ändert nicht daran, dass sich immer mehr Menschen in Deutschland unsicher fühlen. (Foto: dpa)

Sexuelle Übergriffe, Tritte in der U-Bahn und immer wieder Terror: Die Nachfrage nach Pfefferspray und Selbstverteidigungskursen hat angesichts der Ereignisse im Jahr 2016 stark zugenommen. Sind die Deutschen ängstlicher geworden?

Von Felicitas Kock

Manchmal hat Luisa S. Angst. Wenn sie morgens im Dunkeln zum Zug läuft. Oder abends alleine nach Hause. Ein ungutes Gefühl, weil sie durch ein paar düstere Gassen muss. Mindestens einmal hat sie deshalb schon in ihre Handtasche gegriffen und ihr Pfefferspray umklammert, bereit, sich gegen potenzielle Angreifer zu wehren. Danach hat sie über ihre grundlose Panik den Kopf geschüttelt. Obwohl sie weiß, dass die meisten Frauen schon in solchen Situationen waren: "Wer kein Pfefferspray hat, klemmt sich eben den Haustürschlüssel zwischen die Finger."

Seit Anfang des Jahres trägt die 25-Jährige das Spray mit sich herum, wenn sie alleine draußen unterwegs ist oder in eine größere Stadt fährt. Wenn ihr Freund Nachtschicht hat, nimmt sie die Dose mit ins Schlafzimmer im ersten Stock eines Zweifamilienhauses.

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Der öffentliche Raum war lange nicht mehr so sicher wie heute. Zugleich wollen immer mehr Menschen Selbstverteidigung lernen. Zahlen kommen gegen das Gefühl der Verunsicherung nicht an.

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Gekauft hat sie es nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht und der Vergewaltigung einer Frau in der Nähe ihrer hessischen Heimatstadt Alsfeld. "Weil ich mich sicherer fühle, wenn ich die Möglichkeit sehe, mich zu verteidigen - zumindest theoretisch", sagt Luisa. Sie sei kein Angsthase, aber klein und zierlich und ohne Hilfsmittel im Ernstfall wehrlos.

Die junge Frau ist nicht die Einzige, die mit einer Dose Reizgas gegen ihre Unsicherheit kämpft. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der im Fachhandel verkauften Pfeffersprays verdoppelt. "Wir haben es mit einer ganz neuen Kundschaft zu tun", sagt Roland Zobel vom Verband deutscher Büchsenmacher und Waffenhändler (VDB). Früher seien vor allem Jäger und Sportschützen ins Fachgeschäft gekommen, also Menschen, die sich beruflich oder hobbymäßig mit Waffen auseinandersetzen. Heute stehe "ein bunter Querschnitt durch die Gesellschaft" im Laden, von der Studentin bis zum Rentner.

"Ich fühle mich unsicher - was können Sie mir empfehlen?", fasst Zobel die Fragen zusammen, die seine Kollegen im Laden oft zu hören bekämen. Nach ihren Beweggründen gefragt, müssten viele Kunden erst einmal überlegen, so diffus sei ihre Angst. Geht es ihnen um den Schutz vor Einbrechern, vor Gewalttätern an der einsamen Bushaltestelle oder vor Tieren?

Gegen die Abwehr von Menschen empfiehlt Zobel in erster Linie einen Schrillalarm, der auf Knopfdruck ein Signal in Polizeisirenenlautstärke abgibt oder eine Stroboskop-Taschenlampe, die dem Gegenüber Sterne vor den Augen tanzen lässt. Wenn es um die Abwehr von Einbrechern geht, macht laut Zobel auch eine Schreckschusswaffe Sinn. Dafür brauche es aber einen nervenstarken Waffenführer. Schließlich müsse man so einen "Bluff" mit einer unechten Pistole erst mal bringen.

Nach den Attentaten in Paris im vergangenen Jahr und den Übergriffen in Köln war die Nachfrage nach Schreckschusswaffen bis März stark gestiegen. Dann normalisierten sich die Verkaufszahlen. Viele Leute hätten sich die Waffen in einem ersten Angstreflex gekauft und sich danach gefragt, was sie eigentlich damit anfangen sollen, sagt Zobel. Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz dürfte die Nachfrage nun wieder wachsen.

Auch beim Pfefferspray dürften die Verkaufszahlen weiter hoch bleiben. Doch Angreifer damit abzuwehren, ist problematisch. Es darf nur gegen Tiere verwendet werden oder in Notwehrsituationen. Wenn der Täter durch das Spray eine Verletzung am Auge davonträgt und das Opfer nicht nachweisen kann, dass es in Notwehr gehandelt hat, kann es selbst angezeigt werden. "Der Täter ist zudem immer gewaltbereiter als das Opfer", sagen Experten der Polizei - wenn es ihm gelinge, dem Opfer die Waffe zu entreißen, sei er meist bereit, sie auch einzusetzen. In Notsituationen haben Opfer zudem oft keine Gelegenheit, das Spray aus der Tasche zu ziehen. Am Ende bekomme die Frau womöglich mehr ab als die Angreifer. "Als Mittel zur Selbstverteidigung taugt Pfefferspray wenig", sagt Susanne Heusgen, Sprecherin der Düsseldorfer Polizei. Doch gegen die gefühlte Angst scheinen Argumente nur wenig ausrichten zu können.

Anbieter von Selbstverteidigungskursen hören in diesen Tagen oft, dass sich die Menschen im öffentlichen Raum nicht mehr sicher fühlen. Die Nachfrage nach den Kursen ist im vergangenen Jahr stark gestiegen. Private Anbieter und viele Volkshochschulen haben ihr Programm erheblich ausgeweitet. In Stuttgart etwa hat sich das Kursangebot in den Bereichen Selbstbehauptung und Selbstverteidigung verdoppelt, in Mannheim sogar verdreifacht.

Und das, obwohl der öffentliche Raum objektiv nicht unsicherer wird. Lediglich Wohnungseinbrüche und Taschendiebstähle haben Konjunktur. Die Gewaltkriminalität dagegen ist im vergangenen Jahr nahezu gleich geblieben und war davor seit 2009 rückläufig ( hier die derzeit aktuellen Zahlen aus der Kriminalstatistik). Besonders im Bereich der gefährlichen und schweren Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen war zuletzt ein Rückgang zu verzeichnen.

Sozialpsychologe Ulrich Wagner beobachtet eine regelrechte "Entkopplung zwischen Wahrnehmung und Fakten". Das subjektive Sicherheitsgefühl hat ihm zufolge nur wenig mit den tatsächlichen Fallzahlen zu tun. Der Mensch neige dazu, Ereignisse als größer und bedrohlicher wahrzunehmen, wenn es eindrückliche Bilder gebe, die er leicht aus dem Gedächtnis abrufen kann. Das traf auf die Übergriffe in Köln zu und das trifft auch jetzt in Berlin zu. Das erschütternde Bild des Lkws mit der geborstenen Frontscheibe, aus der noch Tannenzweige hervor ragen, wird den Menschen nicht so schnell aus dem Kopf gehen.

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Gleichzeitig, sagt Wagner, habe sich in den vergangenen Monaten bei vielen das Gefühl verstärkt, die Polizei könne die Bürger nicht ausreichend schützen. Angstforscher Borwin Bandelow kann das bestätigen. Vor den Übergriffen an Silvester, sagt der Göttinger Professor für Psychiatrie und Psychotherapie, habe der Eindruck überwogen, in einem "sicheren Land" zu leben, in dem Straftäter verfolgt und Straftaten geahndet werden. Dass sich die Beamten angesichts der massenhaften sexuellen Übergriffe auf der Domplatte geradezu ohnmächtig zeigten, hat dieses Grundgefühl ein Stück weit erschüttert. Dass danach nur wenige Täter gefasst, geschweige denn verurteilt wurden, macht es nicht besser.

Ein weiterer Grund für die Verunsicherung sind laut Bandelow die immer durchlässiger erscheinenden Grenzen der Bundesrepublik. "Jeder der will, kann an mich herankommen. Jeder kann auf meinen Hof kommen und bei mir einbrechen", beschreibt er, was er oft zu hören bekommt. Bewegt man sich in einschlägigen Internet-Foren, bestätigt sich dieser Eindruck. Vor allem Männer scheinen sich hier darüber zu informieren, mit welchen Schreckschusswaffen sie Haus und Hof vor Eindringlingen schützen können.

Wird die Gesellschaft also immer ängstlicher? An dieser Stelle wiegeln beide Experten ab. Die Menschen hätten grundsätzlich nicht mehr Angst als früher, nur die Themen hätten sich verschoben. "Die Furcht vor Terroranschlägen hat im Verlauf des vergangenen Jahres sicher zugenommen. Auch um die Folgen der Migrationsbewegungen machen sich die Menschen in Deutschland jetzt stärkere Sorgen", sagt Wagner. Die Furcht vor Arbeitslosigkeit und wirtschaftlichem Abstieg spiele dagegen eine geringere Rolle als früher.

Bandelow zufolge steigt das Angstlevel nach einem schlimmen Ereignis nur für etwa vier Wochen, danach sinkt es wieder. Und wenn sich Anschläge und Amokläufe, U-Bahn-Tritte und Morde zu häufen scheinen wie in diesem Jahr? "Dann adaptieren sich die Menschen", sagt der Angstforscher.

Soll heißen: Selbst wenn die Lage im Land tatsächlich gefährlicher wird - was in Deutschland aktuell nach allen Zahlen, die der Polizei derzeit vorliegen nicht der Fall ist, auch wenn es sich so anfühlen mag - passen sich die Menschen der veränderten Situation an. Sie lernen, mit der Lage umzugehen. Die hohe Nachfrage nach Pfefferspray und Selbstverteidigungskursen zeigt das recht eindrücklich. Und sie versinken nicht in Angst. "Angst wird nicht plötzlich unser Leben bestimmen", sagt Bandelow, "so weit wird es einfach nicht kommen."

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