Sexismus-Debatte:Es geht nur gemeinsam

Bedrohlich wirken sexuelle Zudringlichkeiten dann, wenn sie ein machtgetriebenes Spiel sind. Den Zusammenhang zwischen Macht und Sex aufzubrechen kann nun endlich gelingen - weil Frauen und Männer zusammenarbeiten.

Von Kia Vahland

Günther Jauch gibt eine Fernsehrunde zu Alltagssexismus, mit den üblichen Gästen, und dazwischen Anne Wizorek, "die den Zuschauern weniger bekannt sein dürfte". Da prustet es im Internet. Viele Nutzer des Kurznachrichtendienstes Twitter haben ja nur wegen ihr eingeschaltet. Sie heißt dort @marthadear und ist ein Star, seit sie Donnerstagnacht unter dem Sammelbegriff #aufschrei Frauen bat, von sexuellen Belästigungen zu berichten. Rund 60.000 Einträge versammeln sich dort, Tendenz steigend.

Und jetzt sitzen hier die Journalisten Hellmuth Karasek und Thomas Osterkorn und möchten bitte auch gute Frauenfreunde werden. Jauch gelingt das gar nicht, er macht den Grabbeltest: Wie nah darf er Wizorek kommen, ohne dass sie ihn zurückweist? Es ist, als fingere das alte Denken nach der Revolution und erwische sie nicht einmal am Rockzipfel.

@marthadear, kühl grinsend, klagt nicht an, jammert nicht, sondern verlangt von Männern "Selbstreflexion". Da entgleisen sowohl der Journalistin Wibke Bruhns ("Männer und Frauen sind zwei Spezies") als auch Jauch die Gesichtszüge - wie, Männer und Reflexion? Schwerer als in diesem Moment sind die deutschen Männer lange nicht kollektiv beleidigt worden.

Die Debatte ist längst weiter. Wizorek hat eine Massenbewegung angestoßen: eine Koalition der Vernünftigen über die Geschlechtergrenze und alle Gesellschaftsschichten hinweg. Frauen, die angehört werden wollen, Männer, die daran Gefallen finden. Zu erleben ist der Abschied vom rücksichtslosen Frauenhelden, der im 20. Jahrhundert nicht selten ein Kriegsheld war, ausgebildet in den Weltkriegen als Eroberer, heimgekehrt als Verlierer. Sicher, auf Twitter speien auch zahlreiche alte und junge Säbelrasseler Galle. Sollen sie nur.

Erfahrungswelt außerhalb der eigenen Damen- und Herrenrunde

Hunderttausende andere wissen: Die neue Offenheit ist ihre Chance. Denn plötzlich zeigt sich, dass es noch eine andere Erfahrungswelt gibt als die der eigenen Damen- oder Herrenrunde. Was also, wenn die bisherigen Annahmen schlicht falsch sind - wenn Männer keineswegs stets triebgesteuert agieren, ohne Hirn und Herz? Und wenn Frauen keine stumm lächelnde Projektionsfläche sind für schöne oder hässliche Phantasien, sondern sich Gehör verschaffen? Dann müssen wir wohl mal reden, nicht über-, sondern miteinander. Und stellen fest, dass der alte Sack und das junge Ding sich bedingen - als zwei alberne Stereotypen, mit denen wir zu lange unsere Leben vergeudet haben. Und die wir jetzt endlich ablegen dürfen.

Liest man #aufschrei, zeigt sich: Triebfeder vieler Übergriffe ist nicht Sex, sondern Macht. Nicht die Schäkerei auf der Party wirkt beängstigend, sondern die fordernde, schlüpfrige Anmache in einer Situation, in welcher der andere mehr zu bestimmen hat als man selbst. So dass die Betroffene in den Konflikt von Diplomatie und Stolz gerät und sich hinterher tagelang ärgert, nicht trotzdem eine Ohrfeige ausgeteilt zu haben. Sie gibt sich vielleicht selbst die Schuld, bis sie erkennt: Das hier ist ein Serientäter, der redet mit vielen jüngeren, schlechter positionierten Frauen so. Den gleichen Spruch würde er sich nicht trauen an einer Hotelbar in Australien, wo er keine Respektsperson ist. So ein Mann mag erfolgreich und interessant sein, vielleicht sogar nett. Doch er hat den obsessiven Übergriff - oder die erniedrigende Bemerkung - nötig, um sich stark und geschützt zu fühlen. Er ist darin ein Schwächling.

Bei Twitter ist auch viel von Schuldgefühlen der Männer zu lesen, allerdings leider meistens bei den falschen, nämlich bei der respektvollen Mehrheit. Natürlich entschuldigt sich der FDP-Politiker Rainer Brüderle nicht bei der Stern-Reporterin, die er wohl unschön anbaggerte - auch wenn das neun von zehn Deutsche von ihm erwarten. Dafür reden sich jetzt lauter anständige Kerle ein, eine anerkennende Bemerkung wäre vielleicht schon Belästigung. Und wollen fortan lieber zu Fuß gehen, als alleine mit der hübschen Mitarbeiterin im Aufzug zu stehen. Warum blöken sie nicht lieber die schwarzen Schafe nieder und gesellen sich zu ihren Kolleginnen? Weil sie auch, wie viele Frauen, noch nicht gänzlich Abschied vom Klischee genommen haben, wonach Männer generell unkontrollierbar sind, also mögliche Verbrecher, die man durch formalisierte Zwänge bändigen muss.

Macht ist nicht mehr sexy

Das Durcheinander der Affekte ließe sich einfach klären, wenn sich nur genügend Leute entschieden, erstens auf die alten Rollenbilder zu verzichten. Und zweitens im inneren Koordinatensystem die Sphären von Sex und Macht zu trennen.

Denn wer außer den Herren ganz oben sagt eigentlich, dass Macht per se sexy ist? Wäre das eine anthropologische Grundkonstante, müssten dann nicht scharenweise Männer vom Bauarbeiter bis zum Manager von Angela Merkel oder Hillary Clinton tagträumen? Und wenn die Frauen eine Weltregierung wählen würden, wer säße wohl drin: Putin mit nackter Brust und Gewehr im Anschlag, der Prostitutionsfan Berlusconi - oder nicht doch eher der Familienmensch Obama?

Vielleicht war die Macht der Schwerenöter ja nur so lange sexy, wie die Liebe für die Frauen die einzige Chance auf gesellschaftlichen Einfluss war, etwa im Aufstieg von der Chefsekretärin zur Witwe des Firmenbosses.

Wir werden neue Modelle finden müssen, die nicht mehr feudale Verhältnisse inszenieren, sondern Demokratie repräsentieren. Der Liebe, dem Eros kann es nur nützen, wenn sie endlich sich selbst dienen dürfen und nicht mehr Mittel zum Zweck sein müssen. Wenn ein Karrieremann sich sicher sein kann: Sie mag mich, nicht meine Visitenkarte. Und die Frau sich überall nach den nettesten, klügsten Partnern umzuschauen lernt. Vielleicht wird das Leben unberechenbarer. Sicher aber interessanter und erfüllter für alle.

Und was wird aus der Macht? Sie wird endlich wirklich erstrebenswert. Wenn sich die Macht - wenigstens schon einmal im Zwischenmenschlichen - vom Missbrauch trennt, dann gilt nicht mehr Max Webers soziologisches Diktum: "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht."

Glaubwürdigkeit statt Gewalt

Sondern es gilt Hannah Arendts bahnbrechender Gegenentwurf, wonach Macht und Gewalt getrennt gehören. Das Wesen der Macht ist für die Philosophin eben nicht "die Wirksamkeit des Befehls". Sondern: "Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln." Sie gründet so gesehen in gemeinsamer Fürsorge für die Welt, nicht in Egoerweiterung. Arendt: "Alle politischen Institutionen sind Manifestationen von Macht; sie erstarren und verfallen, sobald die lebendige Macht des Volkes nicht mehr hinter ihnen steht und sie stützt."

Entscheider brauchen also Glaubwürdigkeit und können sich, wenn sie längerfristig denken, Willkür nicht leisten. Das betrifft alle Institutionen, Politik, Banken, Medien, Universitäten. Sicher ist es nicht damit getan, dass man Frauen und alle anderen behandelt, wie sie es verdienen. Es kann aber der Anfang sein für eine Kultur des Austausches und eine Humanisierung von Herrschaftsstrukturen.

Neue Souveränität statt alter Panzer

Doch gehen wir nicht prüden Verhältnissen entgegen, wenn plötzlich alles sexually correct ist? Im Gegenteil. Einfühlungsvermögen hat noch keinem Flirt geschadet. Erlaubt ist, was gefällt, nicht, was sich ziemt. Und für die Frauen wird der Büroalltag viel entspannter, wenn sie sich nicht mehr bei jedem Augenklimpern, jedem Kleidungsstück überlegen müssen, was ihnen als Ausnutzen ihrer Weiblichkeit ausgelegt werden könnte. Vielleicht erscheint uns schon bald der Gedanke absurd, eine könne es "nur deswegen" zu etwas gebracht haben - dann nämlich, wenn Frauen in Karriereberufen die Regel sind und nicht mehr die bestaunte Ausnahme.

Den Anspruch trägt die Generation Wizorek ganz selbstverständlich vor: Normalen Zugang zu Beruf und Boysclubs bitte, und zwar nicht wie früher nur über die vermeintlichen Charmeure. Alice Schwarzer fand das bei Jauch lobenswert, verfiel aber wieder in die alte Vorwurfshaltung. Die ist heute passé: Bei #aufschrei treten die Schuldzuweisungen in den Hintergrund, die so lange den Dialog erschwerten. Im Vordergrund steht nun der wissbegierige Austausch unter Menschen. Ohne Angst.

Das verwirrt manche gestandenen Frauen wie die Journalistin Wibke Bruhns. Berufliche Vorreiterinnen wie sie haben, um dabei sein zu dürfen, jahrzehntelang mit den Schenkelklopfern gelacht, sich gepanzert gegen Kränkungen, soll das alles umsonst gewesen sein?

Abhärtung um jeden Preis aber ist keine Lösung. Empfindsamkeit ist in einer humanen Gesellschaft nicht Bürde, sondern Bedingung. Wer gekränkt ist, der darf das ausdrücken, als Frau oder als Mann. Ein Rainer Brüderle muss sich nicht fragen lassen von einer Reporterin, ob er zu alt sei für einen Hoffnungsträger, denn für sein Geburtsdatum kann er nichts. Eine Demütigung allerdings mit einer noch viel schlimmeren Demütigung zu beantworten, der Erniedrigung zum Sexobjekt, das zeugt nicht von kraftstrotzender Männlichkeit, sondern von Mangel an Souveränität.

Koalition der Klugen

Und darum geht es doch: um eine neue Souveränität, die mit Unterschieden klarkommt. Das kann für Frauen heißen, dass sie im Zweifel im Gespräch herausfinden, ob ein Angriff wirklich einer war oder nicht doch eher eine Ungeschicklichkeit. Für Männer kann es bedeuten, nicht mehr die herben Sprücheklopfer zu bewundern, sondern auf ihr eigenes Gespür zu vertrauen.

Und was ist mit den unverbesserlichen Narzissten, die nicht verstehen, warum das so charmante Affärenangebot auf eine Jobanwärterin zutiefst bedrohlich wirkt? Denen ist nicht zu helfen. Außer durch ein klares "So nicht" von der Koalition der Klugen. Wenn Machtmissbrauch erst einmal allgemein benannt wird als geschäftsschädigende Sache von Feiglingen, dann wird sich manch einer zusammenreißen.

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