Pubertät verstehen:"Die meisten Jugendlichen sind toll"

Welchen Risiken sind Jugendliche heute ausgesetzt? Und wo bringen sie sich selbst in Gefahr? Entwicklungspsychologe Herbert Scheithauer über klare Regeln, Vorbilder und Hartz-IV-Familien.

Benjamin Klaußner

JUNGEN IN DER PUBERTÄT

Gerade Jungen haben es in der Pubertät nicht leicht: Sie müssen sich ihren Platz in der Clique erkämpfen, erste sexuelle Erfahrungen und gewaltige körperliche und psychische Veränderungen verarbeiten.

(Foto: EPD)

DJI Impulse: Herr Scheithauer, was sind die größten Risiken für Jugendliche?

Herbert Scheithauer: Es ist ein Mythos, dass im Jugendalter alles durcheinander gerät und es darum grundsätzlich eine Lebensphase ist, die mit vermehrten Risiken einhergeht. Sie ist sicher eine Phase des Umbruchs. Aber sie muss nicht mit so vielen Änderungen einhergehen, dass die Jugendlichen automatisch mit Entwicklungsgefährdungen konfrontiert werden.

Wie sieht eine "normale" Entwicklung aus?

Dazu gehören eine gesunde Selbst- und Fremdeinschätzung, die erfolgreiche Bewältigung von Entwicklungsaufgaben und die Abwesenheit von Psychopathologie, also psychischen Störungen, und Risikoverhalten. Jugendliche sollen eine Identität entwickeln, sich loslösen vom Elternhaus und gleichzeitig eine berufliche Perspektive aufbauen.

Welche Mädchen und Jungen suchen in dieser Phase verstärkt das Risiko?

Eltern sind sehr wichtig. Jugendliche nehmen vieles aus ihrer Familie mit und suchen daran später Orientierung. Wenn sie in einer Familie groß werden, die von Wärme und Verständnis geprägt ist, erinnern sie sich positiv daran. Das kann in späteren Lebensphasen handlungsbestimmend sein. Eltern müssen sehr sorgsam auf die Bedürfnisse ihrer Kinder achten, auch wenn die Kinder sich verändern. Kinder haben das Recht, eigene Wege zu gehen. Eltern sollten nicht ihre Erwartungen an die Jugendlichen herantragen und davon ausgehen, dass diese das auch wollen. Ein klassisches Beispiel ist etwa der Rechtsanwalt, der erwartet, dass sein Sohn ebenfalls Rechtsanwalt wird.

Die Jugendzeit ist auch eine Phase des Ausprobierens, in der Jugendliche viele Fehler machen. Da müssen Eltern sehr verständnisvoll sein und ihrem Kind signalisieren, dass es bei ihnen einen sicheren Halt hat. Konflikte zwischen Eltern und Jugendlichen entstehen oft nicht deshalb, weil die Jugendlichen sich verändern und neue Ansprüche haben, sondern weil die Eltern nicht gut mit der Veränderung der Jugendlichen umgehen können. Gerade in der Pubertät passiert etwas, das die Kinder als eine Ambivalenz erleben: Sie wollen sich loslösen von ihren Eltern, aber in gewissen Situationen kommen sie doch gern wieder zu ihnen zurück.

Wie streng müssen Eltern sein?

Ist es ein Problem, wenn Eltern Regeln nicht durchsetzen?

Herbert Scheithauer

Herbert Scheithauer ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Freien Universität Berlin. 

(Foto: FU Berlin)

Es gibt Situationen, in denen ein klares Reglement wichtig ist und Jugendliche dieses kennen und als Konstante wahrnehmen sollten. Es gibt aber auch Momente, in denen dieses Reglement nicht so stark sein sollte, dass die Beziehung zu den Eltern in Frage gestellt wird. Die emotionale Wärme sollte grundsätzlich immer erhalten bleiben. Wenn Jugendliche wissen: "Das sind meine Eltern, sie haben diese Absichten, und die sind auch berechenbar", verfügen sie über Raum, in dem sie experimentieren können.

Ich habe oft erlebt, dass Jugendliche sagen: "Meine Mutter ist meine beste Freundin". Aber es funktioniert nicht, wenn ein Vater abends in die Disco fährt und so tut, als wäre er einer von den Jugendlichen. Eltern haben die Rolle, Eltern zu sein. Diese Rolle sollten sie klar definieren. Wenn sie mehr damit beschäftigt sind, selber unzufrieden zu sein oder mit ihren Kindern Dinge nachholen wollen, die sie selber nicht erlebt haben, dann ist das sehr schwierig.

Ist es für Jugendliche heute schwieriger als noch vor 20, 30 Jahren, eine Perspektive für ihr Leben zu entwickeln?

Früher gab es zwar gute Job-Perspektiven, aber Eltern hatten auch häufig eine klare Vorstellung davon, was ihre Kinder eines Tages arbeiten sollen. Oft orientierten sie sich dabei an ihrem eigenen Leben: Ein Handwerker etwa hätte vermutlich mit großer Wahrscheinlichkeit erwartet, dass sein Kind auch Handwerker wird. Heute haben Kinder viel mehr Möglichkeiten, sie können sich freier entfalten. Das ist positiv. Wenn Jugendliche aber nie gelernt haben, sich selbst zu finden, und dabei auch nie unterstützt wurden, kann diese Vielfalt an Lebensperspektiven auch erdrückend sein.

Wann scheitern Jugendliche daran?

Wenn Jugendliche einen guten sozioökonomischen Hintergrund und Eltern haben, die ihre Kinder persönlich und finanziell unterstützen wollen, dann haben sie einen leichteren Weg vor sich. Es wird schwieriger, wenn die Jugendlichen nicht über diesen Hintergrund verfügen, sich ihre Eltern vielleicht selbst als gescheitert erleben. Das kann der Fall sein, wenn Eltern dauerhaft Hartz IV beziehen und ihre Kinder sich mehr oder weniger damit abfinden, dass sie selbst auch von Hartz IV leben werden. Das wird zum Teil noch verstärkt, wenn ihnen in Schulen beigebracht wird, entsprechende Anträge auszufüllen - also sozusagen ihr Schicksal anzunehmen. Das ist kein Realismus, sondern eine Stigmatisierung und eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Man nimmt den Jugendlichen dadurch jegliche Perspektive.

Das ist vor allem vor einem Hintergrund dramatisch: Wenn Jugendliche gefragt werden, was sie sich wünschen, kommen, geprägt durch die Medienwelt, zwar auch abstruse Ideen wie "Ich werde ein Popstar". Aber die meisten Jugendlichen - auch die benachteiligten - wünschen sich einfache Dinge: zu heiraten, Kinder zu haben, mal ein Auto zu kaufen und in einem eigenen Heim zu wohnen. Gerade benachteiligte Jugendliche sind aber oft weit davon entfernt, das zu erreichen, weil die Ausbildungssituation ihnen diese Möglichkeiten gar nicht bietet und sie nie lernen konnten, die für ihre Lebensperspektive notwendigen Schritte zu unternehmen. Da gilt es, Perspektiven zu schaffen und rechtzeitig Jugendliche darin zu unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Wodurch kann diesen Jugendlichen geholfen werden?

Man muss diese Familien unterstützen und neue Wege gehen, damit sich die Biografien der Eltern nicht zwangsläufig bei den Kindern wiederholen. Etwa, indem man den Familien Erziehungshilfen anbietet. Bildungsgutscheine, zum Beispiel, können nicht einfach nur ein Angebot sein. Es geht darum, die Eltern zu motivieren und zu erreichen. Das ist eine sehr schwierige und aufwendige Aufgabe. Auch Schulen, Sportvereine, Freizeitheime, Institutionen, in denen sich Jugendliche bewegen, sind gefordert.

Die öffentlichen Mittel für Jugendarbeit wurden in einigen Bundesländern in den letzten Jahren teilweise halbiert. Das kann man natürlich mit dem demografischen Wandel begründen, aber dieses Argument reicht nicht aus. Es gibt an vielen Stellen überhaupt keine gut finanzierte Struktur für gelingende Jugendarbeit.

Wie wichtig Schulen für Jugendliche sind

Was bedeutet das für die Schulen?

Unsere Sozialisationsinstanzen, besonders die Schule, müssen umdenken: Schule muss stärker ein Ort werden, der den Entwicklungsanforderungen der Jugendlichen gerecht wird und sie darin unterstützt, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Gerade die Schule muss ein Ort sein, wo die Jugendlichen gerne hingehen und wo sie eine Gleichaltrigengruppe haben, die sich um sie kümmert. Dafür braucht man eine grundlegende Philosophie, eine Schulleitung und Lehrer, die das Ziel verfolgen wollen, den Mädchen und Jungen eine Perspektive zu bieten.

Es kann sein, dass die grundlegende pädagogische Herangehensweise dafür verändert werden muss. Etwa dadurch, dass man stärker demokratiepädagogische Elemente aufnimmt und Schule verstärkt zu einem Ort der Mitbestimmung macht. Natürlich müssen auch die Jugendlichen selbst Bereitschaft zeigen, sich auf diesen Weg einzulassen. Wenn Jugendliche selbst mitbestimmen und mitgestalten können, ist das der erste Schritt, ihnen Erfahrungen zu vermitteln, die gut für ihr Selbstwertgefühl sind. Das kann auch über Film-, Theater- oder Musikprojekte funktionieren, die Jugendlichen die Möglichkeit bieten, sich zu entdecken und sich zu präsentieren.

Es muss sehr viel mehr Jugendarbeit stattfinden und auch viel mehr investiert werden. Ein guter Ansatz ist es auch, schon im Schulalter die Lebensphase Jugend mit der nächsten Lebensphase zu verbinden. Etwa dadurch, dass schon in den unteren Klassenstufen Partnerschaften zu Betrieben aufgebaut werden und Schüler die Möglichkeiten haben, dort zu hospitieren. Dadurch werden ihnen Möglichkeiten aufgezeigt und sie haben bessere Chancen, eine Stelle zu finden.

Kann man überhaupt alle Jugendlichen erreichen?

Ich bin grundsätzlich sehr optimistisch, was die Arbeit mit Jugendlichen angeht. Viele haben negative Vorstellungen von der heutigen Jugend, aber ich habe ein ganz anderes Bild. Die meisten Jugendlichen sind wirklich toll! Sie haben Ideen und Vorstellungen davon, wie ihr Leben sein soll. Man muss sie dort abholen, wo sie stehen. Dann kann man sie begeistern und darin fördern, positive Erfahrungen zu machen und eine Perspektive zu finden.

Prof. Dr. Herbert Scheithauer ist Professor für Entwicklungspsychologie und Klinische Psychologie an der Freien Universität Berlin. Das Interview wurde zuerst im Magazin des Deutschen Jugendinstituts, DJI Impulse, veröffentlicht.

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