Protokollserie "Wie ich euch sehe":"Muss mir ein Bein fehlen, damit ich euer Mitgefühl verdiene?"

Protokollserie "Wie ich euch sehe": Extrem dehnbare Gelenke und eine Halskrause sind die einzigen sichtbaren Hinweise auf ihre Erkrankung: Marlene G.leidet am Ehlers-Danlos-Syndrom.

Extrem dehnbare Gelenke und eine Halskrause sind die einzigen sichtbaren Hinweise auf ihre Erkrankung: Marlene G.leidet am Ehlers-Danlos-Syndrom.

(Foto: Illustration Jessy Asmus/SZ.de)

Marlene G. hat eine seltene Krankheit, doch auf den ersten Blick sieht man sie ihr nicht an. Warum das für sie besonders schwierig ist, erzählt sie in einer neuen Folge von "Wie ich euch sehe".

Von Violetta Simon

In unserer Serie "Wie ich euch sehe" kommen Menschen zu Wort, mit denen wir im Alltag zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen: chronisch Kranke, eine Kontrolleurin, ein Pfarrer, eine Verkäuferin. Sie erzählen, wie es ihnen ergeht, wenn sie es mit uns zu tun bekommen - als Kunden, Patienten, Mitmenschen. Diesmal beschreibt die 30-jährige Marlene G. (Name von der Redaktion geändert) ihre Erfahrungen mit dem Ehlers-Danlos-Syndrom. Und warum sie manchmal darunter leidet, dass die Krankheit unsichtbar ist.

"Guck mal, die Frau kann ja doch laufen. Sie ist gerade aus dem Rollstuhl aufgestanden!" - "Die tut nur so, als hätte sie eine Behinderung!" - "Die will nur einen von den Behindertenparkplätzen nutzen, die ist eigentlich gar nicht krank!" Diese oder schlimmere Sprüche höre ich fast immer, wenn ich aus dem Haus gehe. Denn meine Krankheit ist für andere unsichtbar.

Ich leide am Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) - ein Gendefekt, der die Bildung des Bindegewebes im gesamten Körper schwächt und dadurch verschiedene Symptome auslöst. Menschen mit dieser Krankheit leiden an chronischen Schmerzen und Erschöpfungszuständen. Bei mir lösen Stress und Anstrengung zudem eine Art allergische Reaktion aus, die mit einem anaphylaktischen Schock vergleichbar ist.

Ein weiteres typisches Symptom ist eine Überbeweglichkeit der Gelenke, was sich auf Hüfte und Schulter auswirken kann, in meinem Fall eine instabile Halswirbelsäule zur Folge hat. Deshalb trage ich meist eine Halskrause, die ich manchmal unter einem Tuch verberge.

Vorurteile sind schlimmer als Schmerzen

Obwohl ich sehr offen mit meiner Krankheit umgehe, sprechen viele Leute über mich, ohne die Fakten zu kennen. Diese Verurteilung verletzt mich oft mehr als meine körperlichen Schmerzen, so dass ich aus Stolz manchmal auf Hilfe verzichte und lieber die negativen Konsequenzen dafür trage.

Meinen Schwerbehindertenausweis zeige ich nur im äußersten Notfall. Es ist mir unangenehm, wenn im Bus eine alte Frau steht und ich den letzten freien Platz besetze. Also stehe ich auf, weil die Leute sonst blöd schauen. Manchmal weiß ich nicht, was schlimmer ist: die körperlichen Beschwerden oder die Ignoranz und Intoleranz, die Menschen wie uns entgegengebracht wird.

Das beginnt damit, dass wir bei Euch Ärzten nicht gerade beliebt sind: EDS-Patienten sind äußerst betreuungsintensiv, das ist Euch oft lästig. Auch kennen sich viele von Euch mit dieser Krankheit nicht aus, ein Gutachten von einem Arzt zu bekommen, ist so gut wie unmöglich.

Doch es ist von zentraler Bedeutung für das Beantragen finanzieller Unterstützung und die Berechnung des Rentenanspruchs, denn für die zuständigen Behörden existiert dieses Krankheitsbild offiziell nicht. So bleibt den Betroffenen am Ende oft nichts, viele leben von Sozialhilfe.

Lizenz zum Rollstuhlfahren

In den USA ist man da medizinisch zum Teil schon etwas weiter, etwa im Bereich Neurochirurgie und in Sachen Halswirbelsäule. Deshalb fliege ich einmal im Jahr zu Spezialisten, die sich mit EDS auskennen und mir helfen können. Dazu muss ich aber erst einmal den langen Flug überstehen. Weitaus größer ist die körperliche Belastung zuvor, wenn ich mit Sack und Pack von einem Gate zum anderen gelangen muss - die Krankheit lässt meine Gelenke instabil werden. Gut möglich, dass ich dann die nächsten Wochen nichts anderes tun kann als still zu liegen und zu warten, bis die Erschöpfung und die Schmerzen nachlassen.

Aus diesem Grund bin ich auf den Rollstuhlservice der Airline angewiesen. Doch viele von Euch vergessen offenbar, dass man dazu nicht gelähmt sein muss. Und dass das nichts mit Faulheit zu tun hat, im Gegenteil: Ich nutze diese Hilfen nicht gerne. Meist bin ich emotional schon angegriffen, wenn ich nur in einem Rollstuhl sitzen muss. Dann fällt es mir besonders schwer, Eure abschätzigen Blicke und Kommentare zu verarbeiten. Im Alltag überlege ich deshalb oft zweimal, wie ich mich fortbewege - oder ob ich lieber gleich zuhause bleibe.

Äußerlich wirke ich wie eine normale, gesunde 30-Jährige. Wahrscheinlich lasst Ihr Euch deshalb so leicht zu Vorurteilen und Gerüchten hinreißen. Und fragt Euch, warum ich im Flugzeug jemanden bitte, meinen Koffer mit den Medikamenten und anderen notwendigen Utensilien aus dem Gepäckfach zu heben. Neulich meinte eine Stewardess zu mir, wenn mein Handgepäck so schwer sei, dann solle ich es eben zuhause lassen.

Aber am schlimmsten war für mich damals dieser Vorfall nach der Landung. Ich stand neben dem Gepäckband, mein Begleiter war nach vorne gegangen, um meine Koffer zu finden, denn ich konnte aus der zweiten Reihe nur die Hintern der Mitreisenden sehen. Offenbar stand ich einem Anzugträger im Weg, was ihn dazu veranlasste, mich kurzerhand beiseite zu schieben, ohne ein Wort mit mir zu wechseln.

Was war ich denn für ihn - ein Gegenstand? Eine Blumenvase, die dabei stört, das Fenster zu öffnen? Ich hätte gerne gesagt: "Hey, ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, und kein Koffer!" Doch ich schwieg. Ich war zu schockiert, um einen klaren Gedanken zu fassen.

Empathie sollte nicht abhängig davon sein, ob man jemandem sein Gebrechen ansieht. Ich will nicht meine Behinderungen noch hervorheben müssen, um Verständnis von Euch zu bekommen. Oder muss mir erst ein Bein fehlen, damit ich Euer Mitgefühl verdient habe? Es ist nicht schön, immer wieder an den eigenen Verfall des Körpers erinnert zu werden. Aber am liebsten würde ich mir manchmal ein Schild umhängen, auf dem steht: "Ich leide an einer unsichtbaren Krankheit. Sprecht mich an, bevor Ihr urteilt!"

In dieser Serie kommen Menschen zu Wort, mit denen wir täglich zu tun haben, über die sich die meisten von uns jedoch kaum Gedanken machen. Sie teilen uns mit, wie es ihnen im Alltag ergeht und welche Rolle wir dabei spielen - als nervige Kunden, ungeduldige Patienten, ignorante Mitmenschen.

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Aber es gibt auch Menschen, die mir mit Offenheit begegnen: meine Freunde und meine Familie. Ich möchte Euch sagen, wie dankbar ich dafür bin, dass Ihr mir einen sicheren Hafen bietet. Einen Ort, an dem ich ich selbst sein kann, ohne dass die Krankheit im Vordergrund steht. An dem ich mich nicht rechtfertigen oder erklären muss. An dem ich dämliche Witze über das Kranksein machen kann, ohne dass jemand denkt, ich würde nur Kranksein spielen. Einen Ort, an dem ich heulen kann, ohne dass man mir eine Depression andichtet. An dem ich mich sicher fühle und nicht kämpfen muss, weil jemand anderes für mich kämpft.

Wie nehmen Sie die Menschen wahr, mit denen Sie sich aufgrund Ihrer persönlichen Lebenssituation oder Ihres Berufes tagtäglich auseinandersetzen? Was wollten Sie schon immer einmal loswerden? Senden Sie ein paar Sätze mit einer kurzen Beschreibung per E-Mail an: leben@sueddeutsche.de. Wir melden uns bei Ihnen.

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